Tod an der Ruhr
einem Alter also, in dem die meisten Menschen, die viel zu lesen haben, längst eine Brille brauchen. Carl Overberg tat das auch, trug seine Sehhilfe allerdings nur dann, wenn er allein in seiner Amtsstube war. Jetzt kniff er die Augen zusammen und hielt das Papier beinahe eine Armlänge weit von seinem Gesicht weg.
Über die weißen Hemdsärmel hatte er Ärmelschoner gestülpt, die bis zu den Ellenbogen reichten. Sein Rock hing über einem Bügel am Kleiderständer neben der Tür. Wenn das Dienstmädchen ihm einen wichtigen Gast meldete, so vermutete Grottkamp, brauchte Overberg nicht mal eine Minute, um die Ärmelschoner abzustreifen und sich mit Rock und fest geknüpftem Binder vom emsigen Büroarbeiter zum eleganten Repräsentanten der Gemeinde Sterkrade zu wandeln.
Zwischen Kleiderständer und Ofen standen zwei bequeme Sessel an einem runden Tisch, der mit Stapeln von Ordnern und Zeitungen beladen war. Ein Flügel des zweitürigen Bücherschrankes stand offen. Ohne erkennbare Ordnung waren darin Bücher und gebundene Handschriften nebeneinandergestellt und übereinandergeschichtet. Auch im schmalen Hochregal neben dem Fenster, schräg hinter dem Stehpult, lagerten Akten und Papiere.
Grottkamp wusste, dass der Eindruck fehlender Ordnung täuschte. Sterkrades Gemeindevorsteher Carl Overberg war nicht nur ein eitler, sondern auch ein penibler Mann. Mehr als einmal hatte Grottkamp sich darüber gewundert, dass Overberg Erlasse der königlichen Bezirksregierung in Düsseldorf, landrätliche Verordnungen oder Weisungen des Holtener Bürgermeisters sogleich bei der Hand hatte, wenn er es für nötig hielt, seinen Anweisungen durch hoheitliche Rückendeckung Nachdruck zu verleihen.
»Das muss ich Ihnen vorlesen, Grottkamp. Hier! Das ist das Wesentliche.« Overberg tippte mit einem Finger auf das Papier, das er inzwischen auf das Pult gelegt hatte.
Ein wenig zurückgelehnt, um den richtigen Augenabstand zu haben, las er so laut und energisch, als wäre der versammelte Gemeinderat sein Publikum:
»Aus der Einberufung der beiden in Sterkrade ansässigen Ärzte könnte eine Gefährdung der öffentlichen Ordnung erwachsen.
Der Hüttenarzt, welcher für vier- bis fünftausend Arbeiter zur Verfügung stehen muss, namentlich in Unglücksfällen, kann für die medizinische Versorgung der Bevölkerung der Gemeinde Sterkrade nicht herangezogen werden.
Hinzu kommt, dass die Pockenkrankheit in hiesiger Gegend in letzter Zeit in höchst bedenklicher Weise um sich gegriffen hat. Es ist unzumutbar, dass bei solchen Zuständen kein Arzt in der Gegend ist! Der uns zunächst wohnende Dr. med. Herschen aus Oberhausen ist ebenfalls einberufen worden, so dass wir in Notfällen in den zwei Stunden entfernten Orten Dinslaken und Mülheim um Hilfe nachsuchen müssen!«
Triumphierend sah Overberg auf seinen Polizeidiener herab. »Nun, Grottkamp, was meinen Sie, wer das geschrieben hat? Wer schon vor Wochen vorausgesehen hat, wie die Dinge sich entwickeln würden?«
»Ich nehme an, dass Sie das waren, Herr Vorsteher«, sagte Grottkamp ohne erkennbare Begeisterung.
»Genau so ist es. Dieses Schreiben habe ich an die Militärbehörden gerichtet, und eine Zweitschrift habe ich Landrat Kessler in Duisburg zukommen lassen, mit der Bitte, er möge sich in unserem Sinne verwenden. Und was ist passiert?«
»Nun ja, Herr Gemeindevorsteher, die Militärs haben offenbar geahnt, dass der Krieg gegen die Österreicher eine blutige Angelegenheit werden würde. Jedenfalls haben sie unsere beiden Ärzte eingezogen.«
»Nicht nur das, Grottkamp, nicht nur das.« Overberg tippte aufgeregt mit einem Finger auf das Papier. »Die epidemische Krankheit, die ich befürchtet habe, hat Sterkrade erreicht. Und jetzt haben wir genau den Schlamassel, vor dem ich damals schon die hohen Herren gewarnt habe.«
»Na ja, die Pocken, die sind ja nun doch an uns vorbeigegangen«, bemerkte Grottkamp.
»Die Pocken oder die Cholera, was spielt denn das für eine Rolle!«, ereiferte sich Carl Overberg. »Allein in Essen sind dieses Jahr schon neunzig Menschen an den Pocken gestorben. Dass dieser Kelch an uns vorübergegangen ist, ist nur ein glücklicher Zufall. Dafür hat uns jetzt eben die Cholera erwischt. Und wenn die Herren Militärs nur ein wenig vorausschauender gewesen wären, dann hätten sie uns wenigstens einen Arzt gelassen. Dass jetzt die medizinische Versorgung der gesamten Sterkrader Bevölkerung in den Händen eines Heildieners liegt, das ist einfach ein
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