Tod auf der Northumberland: Roman - Ein Fall für John Gowers (German Edition)
als er aus der aufgewirbelten Staubwolke wieder aufgetaucht war. »Und wenn sich nun jemand partout mit Zeitungen beschäftigen will, sagen wir: Times , Mirror, Spectator… «
»Und Punch «, sagte der Bibliothekar unendlich verlegen,
»4–9/65, jaja, Sir. Wir haben sie, wir haben sie. Aber ich bedauere, Ihnen mitteilen zu müssen, dass diese Ausgaben momentan zum Binden gegeben sind.«
Er sagte das so, als ob jemand verstorben, aber noch nicht beerdigt worden sei, sodass er einerseits keine Adresse mehr hatte, andererseits aber auch noch keinen Grabstein sein Eigen nennen konnte.
»Aber hier, Sir«, trumpfte er dann wieder auf und zog ein Buch aus der Hüfte, als sei es eine Handfeuerwaffe, »Darwins Zoonomia !«
Gowers sah den Mann sprach- und ratlos an, und der Bibliothekar flüsterte ihm zu: »Unter uns, Sir. Er weiß in vielen Punkten mehr als sein Enkel! Ich werde Ihnen schnell noch die anderen drei Bände holen!«
Der Investigator erwischte mit einer blitzschnellen Bewegung gerade noch den Jackenzipfel des Männleins. »Wie lange wird das Binden dauern?«, fragte er.
»Oh, gar nicht lange, Sir, höchstens drei bis vier Wochen. Bis dahin haben wir genug Lektüre für Sie!« Das Faktotum schien nicht im Geringsten überrascht zu sein, dass er festgehalten wurde, und sah aus wie ein Mann, der sich mit Geduld und Geschick schon vielen ähnlichen Griffen entwunden hatte. Kaum auf freiem Fuß, war er denn auch schon wieder unterwegs in die unerschöpflichen Tiefen naturhistorischer Weisheit. Gowers stand auf.
»Wie heißt der Buchbinder?«
»Darwin«, schnurrte der Bibliothekar hinter seinen Regalen vergnügt, »Erasmus Darwin. Ich wusste ja, dass Sie sich für Naturgeschichte interessieren!«
69.
Ihre eigenen Erfahrungen waren bald ausgeschöpft, und Jane begann, sich umzuhören. Das war schwieriger, als sie gedacht hatte, denn wenn sie direkt fragte, wurden die Leute misstrauisch, und wenn sie nicht direkt fragte, wusste niemand, was sie eigentlich wissen wollte. Oder warum.
Nur mit Beth sprach sie offen. Nicht nur über das, was sich ändern müsste, sondern auch darüber, wie es sich ändern müsste. So sprachen sie über Grubenausbau, Streckenhöhe, Wetterschächte, kürzere Schichten, höhere Löhne, Waschräume, Kinderbetreuung – bis sie selbst lachen mussten, weil sie sich vorkamen wie zwei Gänschen, die eine Hochzeit planen. Beth erzählte auch von den Gerüchten, die in den Minen am Tyne umliefen, von einer geheimen neuen Organisation unter den Arbeitern, einer Union oder Gewerkschaft, die stark genug wäre, den Grubenherren und Fabrikbesitzern die Stirn zu bieten.
Mutter Irvine, die dabeisaß und nähte, schimpfte sie jedes Mal aus, wenn sie an diesem Punkt angelangt waren. »Glaubt ihr denn, ihr seid die Ersten, die so was wollen? Ich habe die Ludditen hängen sehen, in Newcastle. Raben hatten sie auf den Schultern, die fraßen ihre Augen!«
Jane sagte dann, dass sie keine Maschinenstürmer seien, aber sie schauderte doch jedes Mal. Nicht, weil ihr Vater sich immer bekreuzigt hatte, wenn von den Ludditen die Rede war, sondern weil sie schon als kleines Mädchen schreckliche Geschichten von diesen verzweifelten Fanatikern gehört hatte. Von dem Mann, der eine haushohe Maschine dadurch zerstörte, dass er seinen Arm in ihr Räderwerk schob. Von Frauen, die ihre Kinder …
Das war nicht ihr Weg. Sie war keine Märtyrerin.
Als besonders schwierig erwiesen sich die konkreten Zahlen. So war es etwa für eine einfache Kohleschlepperin unmöglich zu erfahren, wie viele Leute überhaupt im Berg arbeiteten, wer wo eingesetzt war. Wie breit der Schacht, wie hoch die einzelnen Strecken, Förderstollen waren, wie schwer die Hunde, im Durchschnitt.
Den Ausbau konnte sie zählen und hochrechnen. Eine fast universelle Maßeinheit wurde ihr Sohn. Ben konnte im Dunkeln sehen, lief durch alle Gänge, kroch in alle Stollen, wurde immer wieder verjagt – Scheiß woanders, du kleiner Bastard! – und konnte sich Höhe und Breite doch immer bis zum Ende der Schicht merken.
»Ich und eine Hand hoch. Zwei Arme breit. Ich, auf Händen und Knien, stoße oben an.«
Ben maß auf Händen und Knien sechsundvierzig Zentimeter. Jane »eichte ihn« jeden Abend mit Mutter Irvines Maßband, und sie hatten viel Spaß dabei. Für ihn war überhaupt alles ein merkwürdiges Spiel, und sie ließ ihn in diesem Glauben. Er war ihr Werkzeug. Auch als es um Daten und Fakten ging, die er ihr mit seinem Körper nicht mehr
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