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Tod auf der Northumberland: Roman - Ein Fall für John Gowers (German Edition)

Tod auf der Northumberland: Roman - Ein Fall für John Gowers (German Edition)

Titel: Tod auf der Northumberland: Roman - Ein Fall für John Gowers (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Daniel Twardowski
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Regal, das sein gesamtes Küchenmobiliar darstellte, goss Wasser aus einer von mehreren Feldflaschen hinein und verzog den Mund schon beim ersten Schluck. Er überlegte kurz, wann er das Wasser abgefüllt hatte, kam aber nicht darauf. Die Flasche jedenfalls stammte aus einem anderen Jahrzehnt und hatte noch die alten Bleinähte. Es schmeckte entsprechend.
    Gowers ging zu seinem Schreibtisch, nahm eine halb volle
Flasche Rum heraus und schüttete, den Daumen auf der Öffnung, ein paar Tropfen in die bleierne Flüssigkeit. Anschließend leckte er genussvoll den Daumen ab und stand eine Weile am offenen Fenster.
    Hoch über den Dächern kreisten schnarrend ein paar hundert schwarze Vögel, losgerissene kleine Fetzen der Nacht, die langsam über die Stadt kroch. Ihr heiseres Schreien mochte ein Streit über die Schlafbäume sein, die sie aufsuchen würden. Nach Brooklyn hinüber – nein, über die Bucht – Staten Island, der Nacht entgegen – desto schneller ist sie vorbei – in den Park, Central Park, wozu ist der sonst gut?
    Gowers achtete nicht auf den Ausgang der Sache. Die Vögel verschwanden oder wurden von der Dunkelheit ausgelöscht. Obwohl man im Zimmer jetzt nichts mehr sehen konnte, setzte er sich an seinen Schreibtisch, ohne Licht anzuzünden. Er legte beide Füße auf den Tisch und spürte den Nachtwind durch die Löcher in seinen Socken. Die Kälte sagte ihm, dass auch der Spätsommer vorbei war. Zielsicher angelte er nach einer Zigarrenkiste in der untersten Schublade und seufzte schon in der Vorfreude. Wie hatte Lincoln es formuliert? Eine Zigarre ist ein länglicher Gegenstand mit einem Feuer am einen und einem Narren am anderen Ende. Es ist gut, in Amerika zu sein, dachte Gowers. Die Verfassung garantierte jedem Mann das Recht, sich aus freiem Willen zum Narren zu machen.
    Er drehte die echte Havanna, den einzigen Luxus, den er sich gönnte, erst lange unter der Nase, schnüffelte ausgiebig daran. Aber als er das Zündholz am Stuhlbein anriss, arbeitete er schon wieder. Im Licht der kleinen Flamme sah Gowers sich noch einmal die reichlich pornografische Aufnahme an, die das Ergebnis seiner Ermittlungen war. Das Gesicht der jungen Frau, die über ihre Schulter hinweg in die Kamera lächelte und dabei ihr nacktes Hinterteil einem schlaksigen jungen Mann
entgegenreckte. Unter seinem Nachthemd ragte eine Erektion hervor, die dem Betrachter unwillkürlich ein beeindrucktes Stirnrunzeln entlockte.

3.
    Das Zündholz erlosch zwischen seinen Fingern, verbrannte sie, und Gowers fühlte den Schmerz beißender, als ihm lieb war. Früher hatte er mehr ausgehalten. Über sich selbst enttäuscht, leckte er an seinen Fingerspitzen und blies kurz, aber scharf darüber. Dann widmete er sich wieder seiner Zigarre und seinem Fall.
    Es war eine hundsmiserable Calotypie, grobkörnig und grau verwaschen. Aber trotzdem und auch ohne Lupe konnte man es ohne Zweifel erkennen: Das Mädchen war Caroline Blandon. Wer der junge Mann war, wusste Gowers dagegen nicht, noch nicht; er hätte es herausfinden können. Aber es war auch eigentlich ziemlich egal. An jeder Straßenecke gab es abgedankte Soldaten, und vermutlich hatte Tingle dem Jungen nicht einmal Geld geben müssen. Man musste einem gesunden jungen Mann nicht extra Geld anbieten, um ein so schönes Mädchen wie Caroline Blandon zu vögeln. Und sei es auch vor dem gläsernen Auge einer alten Mousetrap.
    Tingle hatte versichert, dass dieser Abzug der einzige sei; aber Gowers war sicher, dass es noch eine ganze Menge anderer Bilder mit der kleinen Blandon im Mittelpunkt geben würde. Das war aber überhaupt nicht sein Problem.
    Sein Problem war, dass er diese Aufnahme Senator Gordon Fitzgerald Blandon zeigen musste, der den Hintern seiner Tochter vermutlich zuletzt vor fünfzehn Jahren auf dem obligatorischen Bärenfell gesehen hatte. Im Büro war jetzt nur
noch das regelmäßige Aufglühen der Zigarrenspitze zu erkennen, und insbesondere die Sorglosigkeit, mit der Gowers die Asche in den längst nicht mehr sichtbaren Eimer am Boden schnippte, hätte jede Hausfrau mit äußerstem Argwohn erfüllt. Tatsächlich ging aber kein Stäubchen daneben, auch wenn das beim Zustand des Büros ziemlich egal gewesen wäre.
    John Gowers war nicht reich, er hatte keine einflussreichen Freunde, keine Familie, hatte keinen besonderen Ruf, er genoss keine politische Protektion. Wenn ein US-Senator, Tammany-Mann, ein enger Freund von Mr. Fünfzehn Prozent, William Macy »Boss« Tweed,

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