Tod im Dünengras
Ermittlungen. Von seiner Gestalt ging plötzlich eine solche
Kompetenz und Autorität aus, dass Erik sich bereitwillig zurücklehnte und
zuhörte.
»Wann haben Sie Ihren Mann zum letzten Mal gesehen?«
»Gestern Abend.« Frau Jesse knetete das Taschentuch in ihren Händen.
»Kurz bevor die letzten Gäste gingen.«
»Wann war das?«
»Gegen elf. Ich bin dann hochgegangen, weil nicht mehr viel zu tun
war. Mein Mann sagte, er würde den Rest erledigen.«
»Und dann? Als der Rest erledigt war?«
Frau Jesse sah Sören ängstlich an und zuckte die Schultern.
»Sie wissen nicht, wann Ihr Mann nachgekommen ist?«
Sie schüttelte den Kopf.
»Sie wissen nicht einmal, ob er überhaupt in die Wohnung gekommen
ist?«
Wieder schüttelte sie den Kopf.
»Halten Sie es für möglich, dass Ihr Mann das Haus verlassen hat,
nachdem er die Gaststätte geschlossen hatte? Dass er zum Strand gegangen ist?«
Auch diesmal schüttelte Frau Jesse den Kopf, allerdings erst nach
kurzem Zögern und weit weniger bestimmt.
»Wie ist er dann in die Dünen gekommen?«
Erik starrte seinen Assistenten mit offenem Mund an. Sören schien zu
vergessen, dass er hier die Frau eines Opfers und nicht eine Tatverdächtige vor
sich hatte. Irgendwas interessierte ihn an diesem Fall ganz besonders, das
spürte Erik. Sören schien sogar schon eine Meinung zu Henner Jesses Schicksal
zu haben. Und da Erik selbst weit entfernt von irgendeiner Erkenntnis war, lieÃ
er ihn gewähren.
»Kann es sein, dass Ihr Mann ein Verhältnis hat?«
Nun schien sich Frau Jesse wieder ganz sicher zu sein. Energisch
schüttelte sie den Kopf, und Erik pflichtete ihr heimlich bei. Henner Jesse war
auch nach seiner Einschätzung kein Mann, der eine Affäre einging. Er war ein
kleiner, dicker Gastwirt, missmutig und unattraktiv. AuÃerdem arbeitete er
hart, noch dazu ständig an der Seite seiner Frau. Selbst wenn es mit seinen
Chancen beim anderen Geschlecht gut bestellt gewesen wäre, an Gelegenheiten
hätte es ihm auf jeden Fall gemangelt.
Sören war inzwischen offenbar bewusst, dass sein Auftreten nicht
ganz angemessen war. Er setzte sich wieder hin und ging sogar so weit, Frau
Jesses Hand zu nehmen. Erik, der im Dienst noch nie die Hand irgendeiner Person
ergriffen hatte, konnte kaum glauben, dass Frau Jesse sie Sören nicht wieder
entzog. Aber tatsächlich schien ihr Sörens Anteilnahme gutzutun. Sie verlor einen
Teil ihrer Nervosität und sah ihn dankbar an.
Sören sprach jetzt sehr ruhig, Erik fand seinen Ton sogar
salbungsvoll. Er wunderte sich immer mehr.
»Gibt es irgendeine Erklärung dafür, Frau Jesse, dass Ihr Mann sich
nachts am Strand aufhielt?«
Nun entzog sie ihm doch ihre Hand. »Manchmal brauchte er, wenn wir
das Lokal geschlossen hatten, noch ein bisschen Entspannung.«
»Und die fand er, indem er zum Strand ging?«
Sie zuckte mit den Schultern. Erik hätte schwören können, dass
Henner Jesse kein einziges Mal in seinem Leben nachts zum Strand gegangen war.
»Warum nicht? Am Ende der Hochsaison ist mein Mann immer total
fertig. Er hat schon seit Wochen Schlafstörungen.«
»Wegen der vielen Arbeit? Oder gibt es einen anderen Grund?«
Frau Jesse stand auf und sah auf Sören hinab. »Ich will zu meinem
Mann!«
Auch Sören erhob sich. Da Frau Jesse zurückwich, hatte sie nun wohl
seine Fahne bemerkt.
»Später, Frau Jesse.«
»Nein! Jetzt!« Sie ging in den Flur und kehrte kurz darauf mit einer
Jacke über dem Arm zurück. »Was soll eigentlich diese Fragerei? Es liegt doch
auf der Hand, was geschehen ist. Mein Mann hat einen Strandspaziergang gemacht
und wurde überfallen. Haben Sie bei ihm eine Brieftasche gefunden?«
Sören sah seinen Chef fragend an, der schüttelte den Kopf.
»Da sehen Sieâs. Er wurde beraubt! Es treiben sich nachts häufig
junge Leute am Strand herum, die dort lagern, grillen, saufen und anschlieÃend
ihren ganzen Dreck am Strand liegenlassen. Mein Mann hat oft darüber
geschimpft. Wahrscheinlich hat er ein paar Jugendliche entdeckt und sie zur
Rede gestellt.« Sie drehte sich um und ging in den Flur zurück. Anscheinend
erwartete sie, dass die beiden Polizeibeamten ihr folgten. »Das waren
sicherlich Drogensüchtige«, rief sie über die Schulter zurück. »Die brauchen immer
Geld.«
»Sie fahren am
Weitere Kostenlose Bücher