Todes Kuss
mich zu demütigen und zu quälen.“
„Warst du etwa eifersüchtig auf sie? Das mag ich nicht glauben.“
„Eifersucht habe ich nie empfunden, das kann ich dir versichern. Aber findest du es nicht unverzeihlich, aus welchen Beweggründen diese zwei mir einen Besuch abgestattet haben? Sie wollten sich vergewissern, dass ich angemessen unglücklich bin. Noch schlimmer allerdings finde ich, dass sie versucht haben, dir Angst vor der Ehe zu machen.“
„Du meinst, sie haben sich absichtlich grausam gezeigt? Das kann ich mir nicht vorstellen!“
„Ich werde mir keine Mühe geben, dich vom Gegenteil zu überzeugen. Aber bestimmt weißt du selbst, wie sehr es Emma ärgert, dass sie noch nicht verlobt ist. Zweifellos wird ihr irgendwann jemand einen Antrag machen und sie zum Altar führen. Mir tut der arme Mann jetzt schon leid. Denn er muss den Rest seines Lebens mit einem Biest verbringen.“
„Aber Emily! Du bist heute wirklich nicht du selbst! Eine Tasse Tee wird dir guttun. Soll ich nach dem Butler läuten?“
„Nein, nein. Mir geht es hervorragend. Vor allem, da mir kürzlich klargeworden ist, dass ich als Witwe meine Meinung viel freier äußern kann als jemals zuvor. Mach dir keine Sorgen meinetwegen. Ich werde den beiden eine Entschuldigung schicken. Niemand wird einer gramgebeugten Witwe Vorwürfe machen, weil sie gelegentlich ein wenig … launisch ist.“
„Wie böse du sein kannst!“
Ich lachte. „Ich glaube fast, es wird mir Spaß machen, mit den anderen Witwen am Rande der Tanzfläche zu sitzen, gemeine Bemerkungen auszutauschen, Klatschgeschichten zu erzählen und Pläne für die Verheiratung der Debütantinnen zu schmieden.“
„Wenn die Trauerzeit erst vorbei ist, wirst du bestimmt nicht lange bei den anderen Witwen sitzen. Dazu bist du viel zu jung, zu attraktiv und zu temperamentvoll.“
„Möglich. Auf jeden Fall bin ich fest entschlossen, meine Freiheit so bald nicht aufzugeben. Wie ich schon sagte: Das Leben einer Witwe hat durchaus seine Vorteile. Doch nun zurück zu dem Thema, über das wir sprachen, ehe diese beiden Biester hier auftauchten. Philips Interesse am antiken Griechenland und mein Besuch im British Museum haben in mir den Wunsch geweckt, Homers Ilias zu lesen. Ich habe in unserer Bibliothek nach einer Übersetzung des Werks gesucht und tatsächlich gleich mehrere gefunden. Wahrscheinlich werde ich mich für die von George Chapman entscheiden.“
„O Emily, wie klug du bist! Ein so schwieriges Buch würde ich niemals lesen.“ Ivy lächelte mich an, wurde jedoch gleich wieder ernst. „War das vorhin eigentlich ernst gemeint?“
Fragend hob ich die Augenbrauen.
„Was du über Philip und“, sie errötete heftig, „eure Hochzeitsnacht gesagt hast.“
„Das war sogar sehr ernst gemeint. Rückblickend denke ich, dass Philip ein wirklich guter Ratgeber war. Wahrscheinlich hätte ich ihm viel besser zuhören sollen …“
In der folgenden Nacht träumte ich zum ersten Mal von meinem verstorbenen Ehemann. Er sah er sehr gut aus und sehr kämpferisch. Sein sandfarbenes Haar wehte im Wind, als er versuchte, die Mauern Trojas zu erstürmen. „Kallista“, rief er dabei, „Kallista!“
Am nächsten Morgen war ich fest entschlossen, baldmöglichst mit dem Studium der Ilias zu beginnen.
25. März 1887, Shepherd Hotel, Kairo
Spiele nun seit Wochen den Touristen. Ägypten hat wirklich ganz erstaunliche Sehenswürdigkeiten zu bieten. Doch bei mir erwecken diese antiken Bau- und Kunstwerke nur den Wunsch, mich wieder mit dem alten Griechenland zu beschäftigen.
Hargreaves ist heute noch einmal zu den Pyramiden geritten. Wollte ihn nicht begleiten, sondern lieber im Basar nach Stücken aus der Ptolemäischen Zeit suchen. Am liebsten wäre mir etwas gewesen, das man in direkte Verbindung mit Alexander dem Großen hätte bringen können. Habe leider nichts gefunden. Uninteressante alte Münzen werden zu horrenden Preisen angeboten. Eine Schande!
Meine Familie drängt mich schon seit einiger Zeit zur Ehe. Habe nie viel darüber nachgedacht und mich heute ganz plötzlich entschlossen, zu tun, was man von mir erwartet. Vermutlich wird es entsetzlich langweilig, einer jungen Dame den Hof zu machen. Aber es lässt sich wohl nicht vermeiden.
3. KAPITEL
Ich stellte überrascht fest, dass mir die Lektüre klassischer Texte große Freude bereitete. Doch ich vertiefte mich nicht nur in die Ilias . Ich besuchte auch häufig das British Museum. Manchmal nahm ich meinen
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