Bitteres Rot
|7| Tilde
Sestri Ponente, Januar 1944
Sie seufzte. Zum Strümpfestopfen hatte sie nur wenig Zeit gehabt. Jetzt, wo sie mit dem schweren Fahrrad mühsam den steilen Anstieg nach Sant’Alberto hinaufkeuchte, quälte sie die schlecht geflickte Stelle an der Fußsohle bei jedem Tritt. Bei den alten Schuhen kein Wunder, das kannte sie schon. Wenn sie die Schuhe später auszog, hatte sich bestimmt eine dicke Blase gebildet.
Es war eine bitterkalte Nacht. Beim Ausatmen entstanden weiße Wölkchen, die sich aber rasch in der eisigen Luft verflüchtigten. Finsternis hüllte sie ein, allein die Vorderlampe des Fahrrads malte einen diffusen Lichtschimmer auf den Boden vor ihr. Alles war ruhig. Nur das mahlende Geräusch der Fahrradkette war zu hören, und ab und zu knirschte ein Kieselstein unter den mehrfach geflickten Reifen.
Sestri tief unter ihr lag in völliger Dunkelheit, wie immer bei Fliegeralarm. Doch die feindlichen Flugzeuge würden ihre Ziele trotzdem finden. Und Sestri hatte eine Menge lohnender Ziele: die Panzerfabrik, die Eisenbahnbrücke … Nichts würden die Flugzeuge aussparen, ihre Bomben würden vom Himmel niederregnen und dabei |8| auch die Gebäude der angrenzenden Wohngebiete wie Kartenhäuser zusammenstürzen lassen. Hier wohnten vorwiegend Frauen, Alte und Kinder, die Palazzi der Reichen blieben meist verschont. Vor weniger als einem Jahr war eine ihrer Cousinen in Genua durch eine Fliegerbombe ums Leben gekommen. Schlafend in ihrer Wohnung an der Piazza Bandiera, in unmittelbarer Nähe der Chiesa della Nunziata. In einem Haus, das es am nächsten Morgen nicht mehr gab.
Ihre Gedanken wanderten zu Fulvio, genannt
il Signorino
. Vor zwei Tagen war er mit drei ähnlich unerfahrenen Gesinnungsgenossen in Cairo Montenotte erschossen worden. Obwohl die Zeitungen nicht darüber berichtet hatten, hatte sich die Nachricht wie ein Lauffeuer verbreitet, schneller als Druckmaschinen überhaupt arbeiten können. Fulvio kam aus gutem Haus, ein Junge, den sie bereits aus Kindertagen kannte. Ein guter Freund, nicht mehr. Anders als all die anderen, die irgendwann immer mehr wollten. Vielleicht war er zu schüchtern gewesen oder er hatte Angst gehabt. Angst vor Biscia, dem hochgewachsenen blonden Jungen, mit dem sie seit ihrem fünfzehnten Lebensjahr verlobt war.
Sie wollten heiraten, wenn alles vorbei war. Aber wann würde das sein? Wann würde dieser verdammte Krieg endlich vorbei sein? Die schnarrende Stimme von Candidus, dem Ansager von Radio London, hatte verkündet, dass die Amerikaner und Engländer auf Rom vorrückten, ohne auf nennenswerten Widerstand zu stoßen. Ob das wirklich stimmte? Der italienische Sender wurde nicht müde, das Gegenteil zu behaupten. Er berichtete von glorreichen Siegen der tapferen italienischen Soldaten, die sich gemeinsam mit ihren deutschen Verbündeten den Invasoren unerschrocken entgegenstellten, um die Ehre des Vaterlands zu verteidigen.
|9| Ihre Fußsohle brannte wie Feuer. Die mit Pappe besohlten Schuhe waren bretthart und spröde. Trotz der Kälte schwitzte sie. Eiskalter Schweiß rann ihr den Rücken hinunter, sie zitterte am ganzen Körper. Zum Glück bot der gewendete alte Wintermantel ihrer Mutter etwas Schutz.
Die Nacht war still und klar, kein Windhauch war zu spüren. Deshalb hatte sie sich auch keine Zeitung ins Unterhemd stecken müssen. Kalt war es trotzdem, wohl um die null Grad. Die feuchte Kälte kroch ihr unter den Rock, hinauf bis zu den Oberschenkeln, wo die zu kurzen kratzigen Wollstrümpfe ein Stück nackte Haut freiließen.
Sie dachte an Biscia, der sie mit seinen Gefährten auf dem Monte Gazzo erwartete. Comandante Grandi hatte keinen Zweifel daran gelassen, dass dem Bombenanschlag auf die faschistische Parteizentrale in Sampierdarena weitere Guerillaaktionen folgen mussten. Nach der Aussperrung durch den Präfekten Basile waren die Arbeiter in die Fabriken zurückgekehrt, aus Furcht, ihre Arbeit zu verlieren. Jetzt galt es, ihnen das verlorene Vertrauen in den Sieg zurückzugeben. Drei Männer aus der Gruppe sollten aus den Bergen nach Sestri hinuntergehen, um dort Waffen zu verstecken, und sich dann für ihren Einsatz bereithalten. Die Aktion leitete Comandante Buranello von der Kommandoebene, Olindo Grandi war von diesem Plan jedoch wenig überzeugt.
Sie passierte die Friedhofsmauer. In ihrer Umhängetasche waren ein Kanten Schwarzbrot und ein Säckchen getrocknete Bohnen verstaut. Ihr Alibi, falls man sie schnappen sollte.
Sie hatte
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