Todesfrist
Kampfspuren! Bloß schwarze Schlieren an der weißen Wand, wie mit einem Kohlenstift gezogen.
»Falls deine Mutter hier entführt wurde«, sinnierte Simon, »hat der Mörder bereits in der Wohnung auf sie gewartet.«
Sabine sah das auch so. Andernfalls hätte das Knacken des Türstocks ihre Mutter alarmiert. Aber warum hatte sie die aufgebrochene Tür nicht bemerkt? Sabine ging ins Wohnzimmer. Auch hier sah alles so aus wie immer. Auf dem Anrufbeantworter des Festnetzanschlusses war nur eine Nachricht. Sabine spielte sie ab und hörte ihre eigene Stimme, die den Pilateskurs am Freitag absagte. Plötzlich regte sich ihr schlechtes Gewissen wieder. Diese verdammte Magier-Doppelfolge! Wäre sie stattdessen zu ihrer Mutter gefahren, hätte sie die Entführung vielleicht verhindern können. Wenigstens wäre sie früher auf die Einbruchspuren gestoßen, und die Kripo hätte mit den Ermittlungen beginnen
können. Bestimmt hätte sie ihren Vater angerufen und von dem mysteriösen Anrufer und dem Tintenfässchen erfahren. Wenn, wenn, wenn … verdammte Kuhscheiße!
Simons Stimme riss sie aus den Gedanken. »Du machst Pilates? Wusste ich gar nicht.«
Und du warst verlobt? Wusste ich auch nicht!
Irgendwie hatte sie kein Glück mit den Männern. Ihre Jugendliebe Erik arbeitete in Wiesbaden, und Simon hatte nie ernsthaft etwas von ihr gewollt.
»Ja, seit drei Monaten.« Sie drückte auf die Wahlwiederholungstaste. Das Display zeigte ihre Handynummer. Im selben Moment vibrierte ihr Mobiltelefon in der Jackentasche. Sie legte auf. Es wäre ja auch zu dilettantisch gewesen, wenn der Entführer von diesem Apparat aus telefoniert hätte.
Sie hörte, wie Simon in der Küche mit den Schränken und Schubladen hantierte. Bei dem Gedanken, dass er die Intimsphäre ihrer Mutter durchwühlte, zog sich ihr Magen zusammen. Aber das war nun mal sein Job – und Simon wusste, was er tat. Zumindest beruflich.
»Wenn er hier auf deine Mutter gewartet hat, musste er möglicherweise Zeit totschlagen«, sagte Simon aus der Küche.
Sabine untersuchte Fernsehgerät und Sat-Receiver und nahm Fingerabdrücke von der Fernbedienung. Zuletzt war ARTE gelaufen, Mutters Lieblingssender. Sie hatte gern Filmklassiker und Werkschauen französischer und italienischer Regisseure angeschaut. Während ihrer Zeit als Grundschuldirektorin hatte sie ihre kleinen Schützlinge bereits mit Texten von Marie von Ebner-Eschenbach und Sagen der griechischen Antike gequält. Völligüberzogen. Aber so war sie nun einmal gewesen. Bei Monika und ihr hatte Mutter es ebenfalls versucht – mit dem Resultat, dass weder Sabine noch ihre Schwester Bücher lasen. Sabine hörte während der Autofahrt wenigstens Hörbücher von David Safier und Tommy Jaud. Nicht gerade die hohe Weltliteratur, aber das munterte sie auf. Nervenkitzel und Spannung hatte sie während
des Jobs genug. Zum Ausgleich brauchte sie etwas Humorvolles, wollte sie nicht so desillusioniert enden wie ihre Kollegen Simon, Wallner und Kolonowicz.
Sie hatte ohnehin nicht vor, ewig bei diesem Haufen von Zynikern zu bleiben, da sie eines Tages zum Bundeskriminalamt in Wiesbaden wechseln wollte. Ihre Chancen standen nicht schlecht, immerhin lag der Frauenanteil beim BKA bei einem Drittel. Allerdings hatte sie schon drei Bewerbungen für eine Ausbildung zum Profiler verfasst, die allesamt kommentarlos abgelehnt worden waren.
»Ich glaube nicht, dass der Kerl ferngesehen hat«, rief Sabine in die Küche. Ein Blick auf die Couch bestätigte ihr, dass die Kissen in der Art und Weise aufgeschüttelt waren, wie ihre pedantische Mutter es immer getan hatte. Neben dem Fernsehgerät lagen einige Hörbücher, die Sabine ihrer Mutter vor einigen Wochen geborgt hatte, damit sie mal etwas anderes hörte als Sagen der griechischen Antike. Wie in Trance starrte sie auf die CD-Hüllen. Hera Lind und Ephraim Kishon. Ein merkwürdiges Gefühl erfasste sie bei dem Gedanken, dass ihre Mutter keine dieser CDs jemals hören würde.
Im Schrank unter dem TV-Gerät bewahrte ihre Mutter Uhren, Ringe und Ketten in einer Schmuckschatulle auf. Sabine öffnete die Box. Auf den ersten Blick fehlte nichts. Weiter hinten im Schrank lag ein in Geschenkpapier gewickeltes Paket. Sabine zog es hervor. Ein schwerer Bildband? Blaues Papier, gelbe Schleife. Eine Karte hing daran. Sabine hielt sie ins Licht. Für meine Kleine – alles Gute, Mama. Der Anblick versetzte ihr einen Stich. Ihre Mutter war eine vorausschauende Frau gewesen. Die Karte
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