Todesnacht: Island-Thriller (German Edition)
Zeiträume abgetaucht und schließlich ganz gegangen war, als der dritte Junge – Hlynur – zur Welt gekommen war. Er hatte eine Freundin in den Westfjorden, arbeitete dort in verschiedenen Jobs zu Wasser und zu Lande, solange er es schaffte, sich vom Alkohol fernzuhalten, und kam nur selten nach Reykjavík. Die Jungen wuchsen im Grunde ohne Vater auf. Nachdem ihr Vater ein paar Jahre in den Westfjorden gelebt hatte, ließ er sich eines Abends bis zur Besinnungslosigkeit volllaufen und wachte nicht mehr auf; sein Körper war nach einem kurzen, kräftezehrenden Leben einfach nicht mehr funktionsfähig. Hlynurs Mutter erzählte den Jungen erst ein gutes Jahr später vom Tod ihres Vaters, und keiner von ihnen besuchte je sein Grab. Hlynur erinnerte sich dunkel an den Tag, als sie ihnen die Nachricht überbrachte. Seine älteren Brüder nahmen es schlechter auf als er, weil ihnen die Tragik der Sache bewusster war. Nach und nach begannen sie, ihn für das Schicksal ihres Vaters verantwortlich zu machen. »Papa ist weggegangen, als
du
auf die Welt kamst«, war ein Satz, den er öfter gehört hatte, als ihm lieb war. Er war nie gut mit seinen Brüdern ausgekommen – sie hatten sich immer gegen ihn verbündet. Seine Mutter war zu sehr damit beschäftigt gewesen, über die Runden zu kommen, um es zu bemerken. Hlynur hatte sich nicht getraut, seinen Brüdern etwas entgegenzusetzen, und seine Wut und seinen Hass stattdessen an schwächeren Klassenkameraden ausgelassen. Mobbing und Gewalt – er wurde ein Spezialist darin, Schwächere zu schikanieren. Und jetzt, seit die E-Mails kamen, musste er sich endlich mit seiner dunklen Vergangenheit auseinandersetzen.
Ungefähr zu der Zeit, als er aufs Gymnasium gekommen war, hatte er sein Verhalten geändert. Seine Wut war langsam abgeflaut, er hatte Mitleid mit denen empfunden, die er vorher schikaniert hatte, und war sich darüber bewusst geworden, dass sein Verhalten negativen Einfluss auf unschuldige Menschen hatte. Doch zunächst hatte er nichts unternommen, um seine alten Sünden zu begleichen.
Direkt nach dem Abitur war er zu Hause ausgezogen, auf die Polizeischule gegangen und hatte dann an verschiedenen Orten im ganzen Land gearbeitet, unter anderem in Reykjavík. Wegen der Kürzungen hatte er seinen dortigen Job verloren und war schließlich in Siglufjörður gelandet, wo man ihm eine Festanstellung anbot. Er hatte kaum Kontakt zu seiner Familie; seine Mutter arbeitete immer noch bei der Stadt Kópavogur, allerdings nicht mehr Vollzeit, denn auch sie hatte die Kürzungen bei der Stadtverwaltung zu spüren bekommen. Seine Brüder traf er nur, wenn seine Mutter alle zum Essen einlud, wenn er zufällig mal in der Hauptstadtgegend zu tun hatte, höchstens ein paar Mal im Jahr. Er war zufrieden mit dieser Situation, hatte nicht viele Gemeinsamkeiten mit seiner Familie.
Hlynur hatte ein paar gute Freunde in Siglufjörður, verbrachte jedoch die meisten Abende vor dem Fernseher und nutzte sein Erspartes für Reisen. Zuletzt war er mit einem Kumpel zu einem Konzert nach England gefahren, davor ebenfalls dorthin zu einem Fußballspiel. Es hatte ein paar Frauen in seinem Leben gegeben, vor allem als er noch jünger war und in Reykjavík gelebt hatte. Jetzt hatte er eine Geliebte in Sauðárkrókur, die man kaum als Freundin bezeichnen konnte, aber das würde sich vielleicht mit der Zeit ändern. Sie arbeitete in der dortigen Grundschule, stammte aber aus dem Südland. Sie trafen sich ab und zu und schliefen miteinander. Meistens fuhr er zu ihr, sie kam nur selten nach Siglufjörður. Manchmal machte er abends noch eine Spritztour nach Sauðárkrókur, wenn er frei hatte. Fuhr meistens ein bisschen zu schnell, an den mächtigen Bergen entlang, durch den eindrucksvollen Skagafjörður – in den Wintermonaten in der unheimlichen Dunkelheit und im Sommer, wie jetzt, im schönen Abendlicht –, betrachtete die Inseln im Fjord, den einsamen Felsen
Kerlingin
, die Frau, der immer noch neben der Insel Drangey stand, nachdem der andere Felsen
Karlinn
, der Mann, längst im Fjord versunken war. Überlegte, wer von beiden das schlimmere Schicksal erlitten hatte: der Mann, den das Meer fortgerissen hatte, oder die Frau, die alleine zurückgeblieben war.
Doch es waren keine Frauengeschichten, die Hlynur an diesen Tagen umtrieben. Die verfluchten E-Mails gingen ihm nicht mehr aus dem Kopf.
Er musste ununterbrochen an die Vergangenheit denken und schlief nachts schlecht, manchmal gar
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