Todesopfer
zu sprechen. Wir lauschten dem regelmäÃigen dumpfen Aufschlagen der Spaten in der feuchten Erde und warteten.
Als ich glaubte, es nicht mehr länger ertragen zu können, hörte das Graben auf. Die Männer mit den Spaten traten zurück, und andere kamen nach vorn. Kameras begannen zu klicken, Leute sprachen in Funkgeräte, aus dem Lieferwagen, der auf unserem Hof parkte, wurden Geräte ausgeladen, und eine Woge der Erregung lief durch die Reihen der Presseleute. Helen kam den Hügel herunter auf uns zu.
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Vier vollkommen erhaltene, vom Torf verfärbte Leichname von Frauen wurden schlieÃlich auf unserem Grundstück gefunden. Die Erste, die sie an jenem Tag ausgruben, war Rachel Gibb, die anderen sind seitdem als Heather Paterson, Caitlin Corrigan und Kirsten Hawick identifiziert worden. Alles Namen, die ich kannte. Ich hatte sie an dem Abend, an dem ich Helen kennengelernt hatte, auf meinem Computerbildschirm gesehen. In den darauffolgenden Tagen erfuhr ich mehr über sie, wo sie gelebt hatten, wer sie gewesen und wie sie angeblich gestorben waren. Und ich verbrachte mehr Zeit, als gut für mich war, damit, mir das letzte Jahr ihres Lebens vorzustellen. Aus ihrem Leben herausgerissen, von allen Menschen abgeschnitten, die sie liebten, hatten diese Frauen die lange, beschwerliche Zeit der Schwangerschaft und die Qualen der Geburt allein und voller Furcht durchstehen müssen. Man hatte ihnen die bestmögliche medizinische Versorgung zukommen lassen, aber niemand hatte ihre Hand gehalten, sie tröstend in den Arm genommen, ihnen gesagt, dass es das alles am Ende wert sein würde. Gefangene, ebenso sehr ihrer eigenen Körper wie der Männer auf Tronal, hatten diese Frauen wie trächtiges Vieh in ihren Pferchen gehockt und
abgewartet, bis ihr Daseinszweck erfüllt war und sie nicht mehr gebraucht wurden.
Jeder Frau, die in dieser Woche aus der Erde geborgen wurde, war das Herz herausgeschnitten worden, genau wie bei Melissa. Jeder waren auf dem Rücken drei Runensymbole ins Fleisch geritzt worden: Othila , was Fruchtbarkeit bedeutet, Dagaz , die Rune für Ernte, und Nauthiz  â Opfer.
Jetzt haben sie die Suche zu meinem groÃen Entsetzen eingestellt, weil ich weiÃ, dass irgendwo noch zwei Leichen begraben sein müssen; sieben KT-Jungen waren ein Jahr, nachdem diese Frauen angeblich starben, geboren worden. Doch die Polizei beharrt darauf, dass die Wiesen hinter unserem Haus gründlich abgesucht wurden, sogar Duncan und Dana sagen, ich solle es jetzt gut sein lassen. Also werden diese Frauen dort drauÃen bleiben. Vielleicht liegen sie für alle Zeit in der Erde der Shetlands, zusammen mit all den anderen Frauen, die im Lauf der Jahrhunderte auf diesen Inseln spurlos verschwunden sind. Oder aber sie tauchen eines Tages doch auf, wenn ein Unwissender es wagt, ihre Ruhe zu stören.
Die Seeschwalben haben sich jetzt einen anderen Platz gesucht, um ihre Nester zu bauen. Wir können es ihnen nicht verdenken, wir werden das Gleiche tun.
Nachwort
Die Geschichten, die Todesopfer zugrunde liegen, sind dokumentiert, allerdings nicht sehr umfangreich, hauptsächlich, weil die Bewohner der Shetlands viele Jahre lang keine Notwendigkeit sahen, sie niederzuschreiben. Die Abgeschiedenheit des Gebiets sorgte dafür, dass die Bevölkerungszahlen stabil blieben, und lange Zeit wurde Hörensagen für ausreichend gehalten. Ich habe festgestellt, dass die Inselbewohner sogar einen gewissen Widerwillen dagegen empfanden, über diese seltsamen und übernatürlichen Ereignisse zu sprechen.
Dass sie überhaupt festgehalten worden sind, liegt vor allem an der Hartnäckigkeit einer Frau aus Unst. Jessie M. Saxby, das neunte Kind eines neunten Kindes (die Neun ist in der nordischen Mythologie eine ganz besondere Zahl), wurde das Vorrecht eingeräumt, sich mit den Geschichten vom Ãbernatürlichen zu befassen, und sie hat sie für uns in ihrem wunderbaren Buch Shetland Lore aufgezeichnet. Dort habe ich die grausige Legende von den Kunal Trows entdeckt (ausgerechnet in der öffentlichen Bibliothek von Aylesbury), aus der die Idee für Todesopfer entstanden ist. Ich habe diesen Roman in den heimischen Grafschaften von England verfasst und bin erst nach Norden gereist, als er beinahe fertig war.
Und so erblickte ich an einem klaren, frostigen Morgen im November zum ersten Mal die echten Shetlandinseln. Die groÃen Erwartungen, die ich
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