Todesqual
Tageslicht. Die Kamera stand am Straßenrand. Stücke des Absperrbandes wehten vor die Linse.
Als Lena dem Bericht lauschte, war sie überrascht, wie viele Einzelheiten die Reporter zusammengetragen hatten. Nach einer undichten Stelle in den eigenen Reihen hörte es sich nicht an. Anscheinend hatte der Sender sich umgehend auf die Sache gestürzt und gründlich recherchiert. Man kannte den ungefähren Todeszeitpunkt. Man wusste, wo Nikki Brant aufgewachsen und zur Schule gegangen war und wie sie ihren Mann kennengelernt hatte. Man wusste auch, wo sie gearbeitet
hatte und dass sie schwanger gewesen war. Allerdings waren die Medien über ihre Ehekrise und die bizarren Aspekte der Tat ebenfalls im Bilde. Aus unbekannten Gründen scheute der Reporter jedoch vor dem offensichtlichen Schluss zurück, James Brant als Schuldigen zu bezeichnen. Lena fragte sich, ob das wohl an Buddy Paladinos nachmittäglichen Telefonaten mit der Presse lag.
Die Live-Berichterstattung gab ihr die Antwort, denn die Zusammenfassung des Nachrichtensprechers war nur das Vorspiel zu einem Exklusiv-Interview, das ein Reporter am Tatort geführt hatte. Allerdings war der Gesprächspartner nicht Brants aalglatter Rechtsbeistand. Der Fernsehjournalist hatte nämlich einen Zeugen aufgetan. Einen Nachbarn namens George Smythe, der behauptete, er habe beobachtet, wie James Brant um ein Uhr in der Mordnacht seinen Wagen im Rustic Canyon Park abgestellt hatte und in den Wäldern verschwunden sei.
Lena trat näher an den Fernseher heran, um den Zeugen besser betrachten zu können.
Smythe saß auf der Terrasse vor seinem Haus auf einem Stuhl. Im Hintergrund waren verschwommen die Umrisse des Bürgerzentrums zu sehen. Er wurde als Drehbuchautor vorgestellt, auch wenn keiner seiner Filme Lena ein Begriff war. Der Mann wohnte gegenüber vom Park, war schätzungsweise Mitte dreißig und hatte helle Haut und einen wachen Gesichtsausdruck. Während er schilderte, wie er in jener Nacht auf der Terrasse gesessen und Brant beim Einbiegen in den Parkplatz beobachtet habe, rief Lena sich die vorläufigen Berichte und Vernehmungsnotizen ins Gedächtnis, die sie in den vergangenen zwölf Stunden in die Mordakte eingeheftet hatte.
»Damals habe ich mir nichts dabei gedacht«, sagte Smythe gerade. »Als ich aufwachte, war das Auto weg.«
Die Kamera schwenkte noch einmal live zum Parkplatz.
Diesmal handelte es sich um ein tragbares Gerät, und Lena wusste, worauf es den Reportern ankam: eine Aufnahme vom Mordhaus durch die Bäume aus der Täterperspektive. Allerdings hatten die Produzenten der Sendung Pech, denn wegen des dichten Nebels war nicht viel mehr zu sehen als wabernde Dunstschwaden. Als ins Studio zurückgeschaltet wurde, stellte Lena den Ton ab und griff wieder zum Telefon.
»Wir haben die gesamte Nachbarschaft abgeklappert, Hank.«
»Vielleicht war er ja nicht zu Hause.«
»Doch, war er«, erwiderte sie. »Ein Kollege aus West L. A., der an alle Türen geklopft hat, hat ein Zeugenbefragungs-Formular ausgefüllt. Smythe hat mit keinem Wort erwähnt, dass er Brant beobachtet hat. Ich habe seine Aussage auf dem Formblatt gelesen. Es liegt in der Mordakte.«
»Wahrscheinlich ist es ihm erst später wieder eingefallen. Ich wünschte nur, wir hätten als Erste mit ihm gesprochen. Vielleicht hätte es gereicht, um Brant bis Montag festzuhalten. Dann würde er nicht frei herumlaufen.«
Lena beschloss, dass es das Beste war, Novak jetzt gleich von ihrer Begegnung mit Brant hinter dem Haus zu erzählen. Sie schilderte ihm das Treffen, ohne etwas auszuschmücken oder unter den Tisch fallen zu lassen. Als sie fertig war, schwieg Novak eine Weile. Dann erkundigte er sich, ob mit ihr alles in Ordnung sei.
»Was willst du wegen Smythe unternehmen?«, fragte sie.
»Als wir am Freitag losfuhren, war Rhodes noch dabei, die Nachbarn zu vernehmen. Möglicherweise hat er mit jemandem gesprochen, der Smythe kennt. Ich finde, wir sollten ihn morgen früh noch einmal hinschicken.«
»Soll ich ihn anrufen?«
»Ich erledige das«, antwortete Novak. »Du hast dir deine Nachtruhe ehrlich verdient. So wie wir alle.«
»Hank?«
»Ja?«
»Wann wusstest du es?«
»Dass Brant unser Mann ist?«
»Ja.«
»Ich bin nicht ganz sicher«, erwiderte er. »Der Fall ist alles andere als klar, Lena. Die Antwort lautet: ziemlich spät. Zu spät, um noch etwas dran zu ändern.«
Nachdem er aufgelegt hatte, schaltete Lena Telefon und Fernseher ab und überlegte. Novak schien genauso
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