Todesqual
enttäuscht zu sein wie sie.
Zu spät, um noch etwas dran zu ändern .
Lena öffnete ihre Stiefel, streifte sie von den schmerzenden Füßen und ließ sie fallen. Sie war erschöpft. So, als ob ihr gleich die Augen zufallen würden. Und dennoch war sie nicht sicher, ob sie Schlaf finden würde. Das Zittern hatte zwar aufgehört, aber die Beklommenheit in der Brust war ihr bis nach Hause gefolgt.
Zu spät, um noch etwas dran zu ändern. Eine Vorstellung, die an einen Schlangenbiss erinnerte.
Sie stand auf, schaltete die Stereoanlage ein und klickte sich durch die CDs, die sie vor dem Mord eingelegt hatte. Klassik würde vermutlich nicht genügen, Rock ihre Nervosität noch steigern. Nichts konnte sie reizen. Jazz war es, was sie jetzt brauchte. Doch eine CD erschien ihr zu einsam, und die Reichweite des Senders 88.1 in Long Beach erstreckte sich nicht bis in die geschwungenen Hügel Hollywoods.
Ihre Anlage war mit einem Kabelmodem ans Internet angeschlossen. Lena stellte den Monitor an und klickte sich durch die Stationen, bis sie auf WRTI stieß, einen Sender aus Philadelphia, den sie sehr mochte. Laut Programm würde zur vollen Stunde eine Retrospektive über Musikerduos beginnen: Ellington und Strayhorn. Parker und Gillespie. Bis Mitternacht war dann Larry Coryell an der Gitarre dran. Seite zwei von Barefoot Boy .
Ihr Bruder hatte das Album als LP besessen, doch Lena hatte es sich schon seit einer Weile nicht angehört. Als die Musik einsetzte, regulierte sie die Lautstärke und ging in die Küche.
Von der Kiste, die sie vor sechs Wochen bei einem Großhändler am San Fernando Boulevard gekauft hatte, waren im Kühlschrank noch drei Flaschen Chardonnay übrig. Lena entkorkte eine, schenkte ein Glas ein und trank rasch zwei Schlucke. Es war ein guter Wein, Chardonnay Les Pierres von Sonoma-Cutrer, dessen frischer Geschmack ihr in diesem Moment besonders zusagte. Während sie den Wein genoss und lauschte, wie sich Coryells klagender Rhythmus aufbaute, stellte sie fest, dass das Lämpchen an ihrem Anrufbeantworter blinkte. Sie drückte auf WIEDERGABE, erkannte den Anrufer und hätte wohl über diesen Zufall schmunzeln müssen, wäre sie nicht so müde gewesen. Tim Holt war der beste Freund ihres Bruders, hatte Keyboard in der Band gespielt und gemeinsam mit David viele ihrer Lieder geschrieben. Lena hatte seit einem knappen halben Jahr nichts von ihm gehört.
»Hallo, Lena, ich bin es, Tim. Ich habe mich eine Weile nicht gemeldet, weil ich nicht in der Stadt war. Doch jetzt bin ich zurück und dachte, ich rufe dich mal an. Vielleicht können wir diese Woche ja zusammen essen gehen. Ich würde dich gerne sehen und mit dir reden.«
Da die angegebene Telefonnummer neu war, notierte Lena sie. Tims Stimme klang fest, und sie hoffte, dass er wieder clean war. Allerdings vermutete sie, dass er nicht um der alten Zeiten willen anrief. Seit dem Tod ihres Bruders hatten sich viele Leute mit ihr in Verbindung gesetzt. Die Gespräche liefen für gewöhnlich auf die Bitte hinaus, das Tonstudio wieder zu eröffnen. Wie ihr Bruder war Holt überzeugt, dass die Klangeffekte dort unvergleichlich waren. Lena wollte gerne helfen und hatte ein schlechtes Gewissen, weil sie es einfach
nicht über sich brachte. Holt mochte ein guter Freund sein, aber Lena war noch nicht so weit. Allein die Vorstellung, Musik zu hören und beim Betreten der Garage jemanden an der Gitarre und am Mikrofon zu sehen, der nicht David war, weckte zu viele Erinnerungen und riss alte Wunden wieder auf.
Lena leerte ihr Glas und schenkte sich ein zweites randvoll ein. Dann ging sie ins Schlafzimmer, zog sich aus und stellte sich unter die warme Dusche. Sie duschte so lange, bis das heiße Wasser aufgebraucht war, schlüpfte anschließend in ein T-Shirt und föhnte sich das Haar, bis sie das Geräusch nicht mehr ertragen konnte. Zu guter Letzt stellte sie das Weinglas neben die Pistole auf ihren Nachttisch am Bett. Als sie das Fenster einen Spalt weit öffnete und das Licht löschte, nahm sie sich wieder einmal vor, endlich den kleinen Riss im Fliegengitter zu reparieren. Lena kroch unter die Decke, lehnte sich ans Kopfbrett aus Kirschholz, trank ihren Wein und blickte hinaus. Nun spürte sie es. Den Wein, die Musik und vielleicht sogar ein tiefer Schlaf, der sie am Ende des Tunnels erwartete.
Allerdings bot sich ihr im Moment aus ihrem Schlafzimmerfenster eine atemberaubende, ja, nahezu surreale Aussicht. Vom Ozean waren Wolken herangezogen, hüllten die
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