Todesrosen
und Beifahrer reckten die Hälse, um einen Blick über die Friedhofsmauer zu erhaschen und die Polizei und die Techniker bei der Arbeit zu sehen.
»Was kann ein Mann, der die Leiche eines jungen Mädchens auf das Grab von Jón Sigurðsson legt, möglicherweise damit ausdrücken wollen?«, fragte Erlendur nachdenklich hinter seinem Schreibtisch. Sigurður Óli saß ihm gegenüber. Das Büro war holzvertäfelt, und an den Wänden befanden sich Regale voller Ordner mit vergilbten Protokollen von gelösten und ungelösten, längst in Vergessenheit geratenen Fällen. In einer Ecke des Büros stand ein grauer Stahlschrank, in dem weitere alte Fälle alphabetisch geordnet aufbewahrt wurden. Auf dem Boden lag ein Teppich, der ursprünglich wohl grün gewesen sein musste, inzwischen aber abgewetzt, grau und verblichen war. Erlendur hatte keinerlei persönliche Gegenstände in seinem Büro, keine Familienbilder oder Fotos von sich auf dem Golfplatz, mit Bridgefreunden oder vom Urlaub in Spanien. Ein persönliches Foto von Erlendur hätte allerdings nur zu Hause aufgenommen werden können, wo er die Abende und die Wochenenden im verdunkelten Zimmer mit Lesen verbrachte, es hätte ihn im Sessel gezeigt mit einem Buch in der Hand oder eingeschlafen vor dem flimmernden Fernseher. Er lebte ein einsames, wenig abwechslungsreiches Leben. Seit Jahren schon hatte er keinen Urlaub mehr genommen. Er hatte wenig Freunde und pflegte kaum andere Kontakte als die zu seinen Kollegen bei der Kriminalpolizei. Er vermisste jedoch nichts, für Freunde verspürte er keinen Bedarf.
»Was fällt einem zuerst ein, wenn man den Namen Jón Sigurðsson hört?«, überlegte Sigurður Óli laut.
»Der Unabhängigkeitsheld«, sagte Erlendur, auf seine Kenntnisse aus der Mittelschule vertrauend. »Der isländische Freiheitskämpfer. Sozusagen eine heilige Figur, ein integrer Charakter durch und durch. Es ist bislang nicht gelungen, ihn mit Dreck zu bewerfen. Er war genauso, wie er redete und handelte. Hat den Isländern geholfen, hat ihre Anliegen in Kopenhagen vertreten. Unser Nationalfeiertag ist an seinem Geburtstag. Es ist wohl kaum anzunehmen, dass das Ganze etwas mit der Politik der Unabhängigkeitsbewegung im neunzehnten Jahrhundert zu tun hat.«
»Und was ist mit seinem Privatleben?«, fragte Sigurður Óli. »Jón stammte aus den Westfjorden, er wurde in Hrafnseyri am Arnarfjörður geboren.«
»Am bekanntesten ist die Geschichte von ihm und seiner Frau Ingibjörg«, sagte Erlendur. »Sie war mit ihm verlobt und hat zwölf Jahre hier in Island auf ihn gewartet, während er in Kopenhagen herumgeschäkert hat. Die hatte mehr Ausdauer als die meisten Frauen heutzutage, die würden sich so etwas nicht bieten lassen. Daher stammt wohl auch das Gerücht, dass Jón einen ziemlich lockeren Lebenswandel führte.«
»Falls das Mädchen eine Nutte war, könnte es doch sein, dass das die Verbindung ist. Hat sich Jón nicht angeblich in Kopenhagen mit Freudenmädchen herumgetrieben?«
»Viel zu weit hergeholt. Ich plädiere eher für die Politik. Jón war doch in erster Linie Politiker. Wer auch immer das Mädchen auf seine Grabstätte gelegt hat, will damit etwas Politisches signalisieren. Da steckt irgendeine augenfällige Bedeutung dahinter, eine Botschaft. Wir sollten uns vielleicht mal mit einem Historiker unterhalten.«
»Ein patriotischer Mörder.«
»Ein patriotischer Mörder ist vielleicht gar nicht mal so abwegig. Ein romantischer Patriot. Vielleicht mag er die Änderungen nicht, die Island in den vergangenen zwanzig, dreißig Jahren durchlaufen hat, und das Mädchen ist irgendwie ein Symbol dafür. Ich habe auch was gegen diese Veränderungen, genau wie viele andere aus meiner Generation, auch wenn du und die anderen Yuppies alles mit offenen Armen aufnehmt, was von den Amis kommt. Island entwickelt sich langsam, aber sicher zu einer Art Klein-Amerika.«
»Fang doch nicht schon wieder mit dieser Leier an«, stöhnte Sigurður Óli, der Erlendurs Ansichten zu allem, was amerikanisch war, nur zur Genüge kannte. Sigurður Óli hatte seine Ausbildung in Amerika absolviert, fühlte sich nirgends wohler als dort und konnte stundenlang darüber reden, wie er in Atlanta bei sich zu Hause auf dem Sofa gelegen und sich Baseball angesehen hatte. Er erklärte jedem, der es wissen wollte, aber auch denen, die es nicht wissen wollten, dass er Baseball und amerikanischen Football und Eishockey und die unzähligen Fernsehstationen vermisste. »Du hast
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