Todesrosen
sie hier mit Absicht zur Schau gestellt.«
»Vielleicht hat unser alter Jón sie beschützen sollen«, sagte Sigurður Óli. »Vielleicht sollte er sie wieder zum Leben erwecken.«
»Wo ist die Frau, die sie gefunden hat?«, fragte Erlendur.
»Wir haben sie nach Hause bringen lassen«, antwortete Elínborg. »Ich dachte, das sei in Ordnung. Sie erwartet dich.«
»War sie allein?«
»Das hat sie ausgesagt, und sie will außerdem einen Mann beobachtet haben, der aus dem Friedhofstor hinaus auf die Straße lief.«
»Kümmert euch darum, ob irgendjemand in den umliegenden Häusern zufällig diese Gestalt gesehen hat«, sagte Erlendur, drehte sich um und ging zum Friedhofstor. Sigurður Óli folgte ihm.
»Hast du gewusst, dass die Suðurgata früher einmal Liebesstieg genannt wurde?«, fragte Erlendur, als er in der gleißenden Morgensonne auf die Straße hinaustrat. Zwischen den beiden kam es manchmal zu einem geradezu kindischen Gerangel darum, wer mehr wusste. Erlendur litt unter Minderwertigkeitskomplexen, weil er nur einen Mittelschulabschluss hatte, während Sigurður Óli sich einiges auf sein Universitätsstudium und sein amerikanisches Diplom einbildete. Das kehrte er immer wieder selbstgefällig heraus. Er konnte einem damit den letzten Nerv töten.
»Genau«, antwortete er auf Erlendurs Frage, obwohl es ihm vollkommen neu war. »Hast du gewusst, dass die Suðurgata früher auch manchmal Leichenstieg genannt wurde?«
»Ja, natürlich«, versicherte Erlendur, obwohl er das ebenfalls zum ersten Mal hörte.
Drei
Ihr Name war Bergþóra. Sie hatte sich etwas Bequemeres angezogen, als Erlendur und Sigurður Óli bei ihr vorsprachen. Der Armleuchter hatte sich aus dem Staub gemacht, kurz nachdem sie die Polizei angerufen hatte, mit der Begründung, er habe nicht die geringste Lust, in diese Sache verwickelt zu werden – auf gewisse Weise verstand sie ihn sogar. Aber was für ein Kavalier, der einen einfach in der Scheiße sitzen ließ! Er hatte ihr noch geraten, sich, so gut es ging, aus der Sache rauszuhalten. Dazu war sie fest entschlossen. Durch den Leichenfund war sie wieder stocknüchtern geworden, und jetzt hatte sie den Moralischen. Sie konnte sich nicht vorstellen, jemandem diese Nummer vom Friedhof zu erzählen, weder der Polizei noch irgendeinem anderen. Am liebsten hätte sie die letzte Stunde aus ihrem Leben einfach getilgt. Hoffentlich würde der Typ bloß bei der Arbeit die Klappe halten. Was für ein Albtraum! Was hatte sie sich eigentlich dabei gedacht? Auf dem Friedhof! War sie total übergeschnappt?
Bergþóra wohnte in einem hellen Appartment am Aflagrandi. Sie hatte es geschmackvoll mit Möbeln aus Antiquitätenläden eingerichtet, und kleine Perserteppiche lagen hier und da auf dem Buchenparkett. An den Wänden hingen Nachdrucke, darunter Marilyn Monroe von Andy Warhol. Da sie Erlendur nicht gestattete, in ihrer Wohnung zu rauchen, musste er die Schachtel wieder einstecken. Genau die Traumwohnung für aufstrebende, karrieregeile junge Leute …, dachte er, und für einen kurzen Augenblick sah er sein eigenes Zuhause vor sich, wo alle Gegenstände und Möbelstücke bunt zusammengewürfelt waren, ohne Rücksicht auf Stil und Geschmack.
Zuerst versuchte sie es mit Lügen, sie hatte aber nicht genug Zeit gehabt, sich vorzubereiten und sie einzuüben.
»Viel gibt’s da eigentlich nicht zu erzählen«, begann sie, als Erlendur und Sigurður Óli sich gesetzt hatten, und versuchte, ihren Bericht so normal wie möglich klingen zu lassen.
»Selbstverständlich nicht, in diesem Stadtteil ist es sicher gang und gäbe, dass man auf Leichen stößt«, sagte Erlendur.
»Ich meine ja nur, dass ich euch da nicht groß weiterhelfen kann«, erwiderte sie. »Ich hab in der Innenstadt gefeiert, und so gegen drei kam ich die Suðurgata entlang, also auf dem Weg nach Hause, und da sah ich, wie der Mann aus dem Friedhof herausgerannt kam, die Straße überquerte und um die nächste Ecke rannte. Als ich näher kam, habe ich über die Friedhofsmauer geguckt und das Mädchen da auf dem Grab von Jón Sigurðsson gesehen. Ich hab sofort die Polizei angerufen.«
»Du hast zweimal angerufen. Wieso eigentlich?«, fragte Sigurður Óli.
»Ich war so durcheinander. Gestresst. Meine erste Reaktion war, die Polizei zu holen, aber ich wollte nicht in die Sache reingezogen werden. Ich wollte nicht als Zeugin auftreten. Dann hab ich es mir aber anders überlegt.«
»Wie sah der Mann aus, der da wegrannte?«,
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