Todesträume am Montparnasse
mehreren Jahren. In den Tagebuchaufzeichnungen schreibt sie über ihre Ängste und Träume. Und in den Briefen an die verschiedenen Adressaten schildert Dr. Clément ihr Alltagsleben in Paris. Sie schreibt auch von Heimweh und Sehnsucht nach der Familie, von baldigem Wiedersehen.«
Die Psychologin schüttelte erstaunt den Kopf.
»Merkwürdig«, sagte sie. »Zu den Tagebuchaufzeichnungen habe ich ihr zwar damals in Zagreb geraten. Als therapeutische Maßnahme. Sie sollte ihre Träume aufschreiben, ihre Ängste in Worte fassen. Als Teil der notwendigen psychischen Verarbeitung, damit sie wieder fähig würde, ein normales Leben zu führen. Aber Briefe an ihre Familie? An Freunde? Diese Menschen sind alle tot, Commissaire.«
»Kennen Sie Einzelheiten, wie ihre Familie ums Leben gekommen ist?«
»Ja, die kenne ich.« Christine Payan lehnte sich im Sessel zurück und blickte aus dem Fenster. Der Nachthimmel über der Stadt verstrahlte ein rötliches Licht. In der Ferne, auf einem der Boulevards, hupten Autos.
Mit leiser Stimme begann die Psychologin zu erzählen.
»Als die serbischen Soldaten nach Foča kamen, trieben sie zuerst die männliche Bevölkerung zusammen. Hélènes Vater, ein angesehener Arzt, wurde in seiner Praxis erschossen. Der Sohn Alex, ein Jurastudent, der
gerade Semesterferien hatte, kam in ein Lager. Man hat nie wieder von ihm gehört. Elenas Mutter, eine Anwältin, wurde aus ihrer Kanzlei verschleppt und in der örtlichen Sporthalle interniert. Dort traf sie ihre Tochter, die zusammen mit der Klavierlehrerin Stanka Plasnic während einer Klavierstunde verhaftet worden war.
Auch Elenas beste Freundin Maja hatten die Soldaten in die Turnhalle gebracht. Maja war eine erfolgreiche Geräteturnerin und die Freundin von Elenas Bruder Alex. Elena und Maja waren achtzehn Jahre alt. Sie hatten gerade einige Wochen zuvor das Abitur bestanden. Alle Frauen waren bei ihrer Festnahme geschlagen und beschimpft worden, keine durfte Kleidung, Wäsche oder sonstige notwendige Dinge mitnehmen.
Gleich in der ersten Nacht wurde Elenas Mutter in Elenas Beisein von fünf Soldaten vergewaltigt und anschließend zusammengeschlagen. Danach verschleppten Masson und Vlankovic Elena zum ersten Mal in diese Wohnung, wo sie den Boléro abspielten. Elenas Mutter erlag am nächsten Tag ihren Verletzungen. Nacht für Nacht wurden die Frauen aus der Sporthalle geholt und gequält. Elenas Schulfreundin Maja hat am vierten Tag Selbstmord begangen. Eines Morgens lief sie schreiend aus der Turnhalle und provozierte auf diese Weise die wachhabenden Soldaten, sie niederzuschießen. Das geschah dann auch.«
Christine Payan hielt inne.
»Und die Klavierlehrerin? Was geschah mit ihr?«, wollte LaBréa wissen.
»Stanka Plasnic erlitt das gleiche Schicksal wie die anderen Frauen. Sie hat ebenfalls Selbstmord begangen, aber erst später. Eine Woche nach der Befreiung der Vergewaltigungslager in Foča hat sie sich in die Drina gestürzt. Sie konnte nicht schwimmen, doch um ganz sicherzugehen, befestigte sie an ihren Beinen zwei große Ziegelsteine, bevor sie von der Brücke in den Fluss sprang.«
Eine Weile sagte keiner von ihnen ein Wort. Dann brach LaBréa das Schweigen.
»Was für eine entsetzliche Geschichte. Für die junge Elena und all die anderen muss es die Hölle gewesen sein.«
»Ja, das war es, Commissaire.«
»Vielleicht gehörten diese Briefe an ihre Familie und an Freunde zu Dr. Cléments Strategie zu überleben? Indem sie ihnen schrieb, erweckte sie in ihrer Fantasie diese Menschen wieder zum Leben und war dadurch selbst wieder in der Lage, ihr Leben neu zu gestalten.«
Die Psychologin dachte über LaBréas Worte nach.
»Das wäre möglich. Die Briefe haben ihr geholfen, die realen Erlebnisse auszublenden, das Geschehene zu vergessen.«
»Ja, wahrscheinlich«, erwiderte LaBréa. »Doch die Ereignisse haben sie in dem Moment wieder eingeholt, als Masson seine Strafe in der Santé antrat. Da
hat sie den Mord an ihm geplant und später beide Männer kaltblütig und auf grausame Weise getötet.«
»Vergessen Sie nicht, Commissaire, Masson und Vlankovic waren ihre Peiniger! Ohne Elena wären ihre Taten vermutlich niemals gesühnt worden.«
»Ich frage mich«, sagte LaBréa nachdenklich, »warum Masson, Vlankovic und all die anderen so wurden, wie sie sich im Krieg zeigten?«
Christine Payan lachte, doch es war ein trauriges, verbittertes Lachen.
»Ja, warum werden normale, nette Männer im Krieg zu Folterknechten?
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