Der Peststurm
Kapitel 1
Die Hinrichtung des aus dem Herzogtum Schlesien ins Allgäu geflohenen Arztes Heinrich Schwartz, der es Ende vergangenen Jahres mittels verteufelt gut dosierter Kräutergiftmischungen geschafft hatte, die einfachen Bauern- und Handwerkerfamilien des Tausend-Seelen-Dorfes Staufen glauben zu machen, dass ihre Verwandten und Freunde langsam an der Pestilenz erkrankt und schlussendlich daran gestorben waren, lag jetzt knapp zwei Wochen zurück. Deswegen vermochte es die Leiche des auf dem › Galgenbihl ‹ erhängten Giftmörders mittlerweile, noch erbärmlicher zum Himmel zu stinken als dessen von Gott verdammte Taten, die erst aufgrund ihrer Aufdeckung durch den Medizinstudiosus Eginhard, ältester Sohn des Staufner Schlossverwalters Hannß Ulrich Dreyling von Wagrain, ruchbar geworden waren.
Urheber dieser Giftmordserie war allerdings nicht der Medicus, sondern ein anderer: Der zwar ebenfalls, aber nicht aus Schlesien, sondern aus der Residenzstadt Immenstadt, geflohene Totengräber Ruland Berging hatte diese Schweinerei dereinst ausgeheckt und mit dem versoffenen, arg heruntergekommenen Medicus bis ins Detail geplant. Allerdings hatte er die Früchte seines mörderischen Plans nicht mehr ernten können. Da ihm nach der Ermordung zweier Knaben, die er aufgrund einer Namensverwechslung für unliebsame Zeugen gehalten hatte, der Boden zu heiß geworden und er einmal mehr bei Nacht und Nebel abgehauen war, hatte der Medicus die Sache allein durchgezogen und mit seiner Giftmordserie, der innerhalb weniger Monate 69 unschuldige Männer, Frauen und Greise, ja sogar Kinder zum Opfer gefallen waren, viel Geld verdient, letztendlich aber für seine schändlichen Taten gebüßt, noch bevor er, wie er es ursprünglich geplant hatte, mit Einsetzen der warmen Jahreszeit sein profitables Unwesen hatte weiter treiben können.
Dass der seinerzeit gerade noch rechtzeitig aus Staufen geflohene Totengräber ausgerechnet genau zu dem Zeitpunkt, an dem Heinrich Schwartz sein Leben am Strick aushauchte, zurückgekommen war, dürfte kein Zufall gewesen sein. Immerhin hatte ihn der Medicus ab diesem Zeitpunkt nicht mehr verraten und somit nicht mehr mit der Giftmordserie, und auch nicht mehr mit den Kindermorden, in Verbindung bringen können, weswegen der Totengräber – kaum, dass sich der am Galgen zappelnde Medicus eingenässt hatte, ihm die Zunge aus dem Mund gequollen und das letzte Leben aus ihm gewichen war – vor den um den Galgen herum versammelten Staufnern verschwörerisch gemurmelt hatte, dass er ›im rechten Augenblick, nicht zu früh und nicht zu spät‹, zurückgekommen sei. Das ›nicht zu spät‹ würde jetzt und fürderhin eine unglaublich böse Rolle spielen, das ›nicht zu früh‹ hatte ihm vor knapp zwei Wochen im Angesicht seines erhängten Kumpans das eigene Weiterleben gesichert, um erneut anderen das Leben nehmen zu können, im Moment jedenfalls.
Zudem hatte Ruland Berging geahnt, dass die wahren Zeugen seines seinerzeitigen Gesprächs mit dem Medicus auf dem Kirchhof – Lodewig und Diederich, die zwei jüngeren der drei Söhne des Staufner Schlossverwalters – immer noch am Leben waren, und ihn immer noch verraten könnten, weswegen er sich eines Tages ebenfalls einnässen könnte, ohne dass seine Füße den Boden berührten. Wenn die wüssten, dass ich der Initiator dieser Mordserie gewesen bin und deswegen versehentlich die beiden Blaufärbersöhne, Otward und Didrik Opser, umgebracht habe, würden sie mich wahrscheinlich nicht nur hängen, sondern gleich aufs Rad flechten oder vierteilen, hatte er sich seinerzeit mit einem hämischen Grinsen auf den vernarbten Lippen gedacht.
*
Ließe das Gekrächze der schwarzen Vogelschar die Menschen nicht ständig zum Galgenbihl hochblicken, würde die Vollstreckung des Gerichtsurteils am verhassten Medicus wohl bald in Vergessenheit geraten. Dessen Taten aber würden die Staufner wohl niemals loslassen, obwohl sie jetzt anderes, ihr eigenes Überleben, im Kopf hatten. Denn der Krieg, den man jetzt den ›Großen Krieg‹ nannte, tobte immer noch durch Europa und verschonte auch das Allgäu nicht. Nachdem die Protestanten trotz der Beteiligung schwedischer Kontingente bei Nördlingen eine herbe Niederlage hatten erleiden müssen, waren auch kaiserliche Truppen bis in den letzten Zipfel des deutschen Südens vorgestoßen und wüteten seither auch dort wie die Berserker . Der malträtierten Bevölkerung allerdings war egal, ob es die
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