Todesträume am Montparnasse
sich die Dinge entwickelten. Masson und er bestiegen das Taxi und fuhren zunächst zu einem Lokal in der Rue Oberkampf. Hélène folgte ihnen und beschattete sie den ganzen Tag über.
Die beiden Männer zogen von Kneipe zu Kneipe. Stets kamen sie danach betrunkener heraus, als sie hineingegangen waren. Insbesondere Masson schien bereits am späten Nachmittag nicht mehr richtig auf den Beinen stehen zu können.
Spät in der Nacht brachte ein Taxi die beiden Männer dann in die Rue Chrétien de Troyes, wo Masson ausstieg. Er schwankte, und Hélène sah, dass er sturzbetrunken war. Die Örtlichkeiten in dieser Straße waren ihr bereits bekannt. Vor einigen Wochen hatte sie sich alles genau angesehen. Die Autowerkstatt, nachts mit einem massiven Rollgitter gesichert. Das kleine Haus, in dem nicht viele Parteien wohnten. Die Haustür, die nie abgesperrt war.
Als Vlankovic, der seinen Kumpel ins Haus begleitet hatte, zurückkam und wieder ins Taxi stieg, beschloss Hélène, zunächst dem Taxi zu folgen, um auf diese Weise Vlankovics Adresse in Erfahrung zu bringen.
Etwas später stieg Vlankovic dann in der Rue du Château d’Eau aus. Mit torkelnden Schritten betrat er den Hof der alten Spinnerei. Hélène folgte ihm vorsichtig.
Sie hatte Todesangst. Vlankovic konnte sie entdecken und dann …
Sie sah, dass er in das alte Fabrikgebäude ging. Wenige Minuten später ging im ersten Stock das Licht an. Hier wohnte er also. Wie sie an ihn herankommen konnte, würde sie noch sehen. Zunächst wollte sie sich Masson vornehmen. Sie fuhr zurück zur Rue Chrétien de Troyes und parkte den Wagen in der nächstliegenden Seitenstraße. Als sie ausstieg, hatte sie bereits dünne Gummihandschuhe über die Finger gestreift.
Der Ermittlungsrichter drückte seine Zigarette aus.
»Und dann, Madame? Wie kamen Sie in Massons Wohnung?«
»Es war leichter, als ich gedacht hatte. Die Haustür war ja nicht abgeschlossen. Und die Wohnungstür hatte ein einfaches Schnappschloss. Ich habe mit einer kleinen Nagelfeile ein bisschen daran herummanipuliert. Und die Tür sprang auf.«
Masson lag vollständig bekleidet auf seinem Bett und schlief. Hélène hatte eine kleine Tragetasche mit den notwendigen Utensilien dabei. Schon seit Wochen hatte sie geplant, was sie mitnehmen würde. Sie drückte dem Schlafenden einen mit Äther getränkten Wattebausch aufs Gesicht. Er sollte nur so lange bewusstlos sein, bis sie ihn teilweise entkleidet, ans Bett gefesselt und ihm den Mund verklebt hatte. Als das geschehen war, wartete sie, dass Masson aufwachte.
»Ich zog mir einen blauen Overall über meine Kleidung. Den hatte ich Wochen zuvor in einem Berufsbekleidungsgeschäft gekauft. Ich wollte mich nicht besudeln bei dem, was ich vorhatte.« Die Ärztin hielt einen Moment inne in ihrer Erzählung. Es herrschte Totenstille im Raum.
»Und dann?«, fragte LaBréa.
Hélène Clément atmete tief durch.
»Dann wachte er auf. Obwohl er offenkundig unmäßig getrunken hatte, war er sich seiner hilflosen Lage sofort bewusst. Ich nahm den kleinen Kassettenrekorder, den ich mitgebracht hatte, die Kassette lag schon drin. Und ich spielte die Musik ab. Es dauerte ein paar Sekunden, aber dann hat er sie erkannt.«
LaBréa beugte sich vor. »Den Boléro von Ravel. Warum gerade diese Musik? Was hat es damit auf sich?«
Dr. Clément senkte den Kopf. Sie kämpfte mit sich. Dann setzte sie sich kerzengerade auf und sagte: »Das war die Musik, die sie damals immer spielten. In der Wohnung, in die sie mich holten. Tagsüber war ich in der Sporthalle mit den anderen. Nachts holten sie uns. Einzeln. Sie brachten uns in Wohnungen und Häuser. Und dann spielten Vlankovic und der Blonde den Boléro von Ravel. Immer die lauteste Stelle; die wurde ständig wiederholt. Es ging stundenlang. Nächtelang.« Ihre Stimme brach. »Damit man die Schreie nicht hörte. Meine Schreie und die der anderen Frauen.« Ein Zittern überfiel ihren
Körper. Hélène Clement weinte, hemmungslos und leise. Sie schlug die Hände vors Gesicht und ein lang anhaltender, wimmernder Laut kam über ihre Lippen.
Claudine stand auf, ging zu ihr und legte den Arm um sie. LaBréa und Couperin tauschten einen schnellen Blick. Es war unüblich und normalerweise nicht erlaubt, einem Tatverdächtigen während einer Vernehmung mit Mitleid oder gar Verständnis zu begegnen. Aber was war an diesem Fall schon normal?!
Couperin beugte sich zum Mikrofon. »Unterbrechung der Vernehmung«, sagte er und blickte auf
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