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Todsünde

Todsünde

Titel: Todsünde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tess Gerritsen
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am Ende seiner Kräfte. Er beschloss, dass es an der Zeit war, umzukehren. Die Segel zu streichen und nach Cincinnati zurückzufliegen. Es war nun mal weniger gefährlich, ein Feigling zu sein – und wesentlich bequemer.
    Er seufzte und wollte sich eben mit der Hand am Boden abstützen, um sich aufzurichten, als er plötzlich erstarrte, den Blick auf die Erde gerichtet. Dort, zwischen den Grashalmen, glitzerte es metallisch. Es war nur ein billiger Blechknopf, aber in diesem Moment erschien er ihm wie ein Zeichen, ein Talisman. Er steckte ihn in die Hosentasche, rappelte sich auf und ging weiter.
    Nach nur wenigen hundert Schritten weitete sich die Straße plötzlich zu einer von hohen Bäumen umstandenen Lichtung.
    Am anderen Ende erblickte er ein einzelnes Gebäude, einen niedrigen Bau aus Hohlblocksteinen mit rostigem Blechdach. Trockene Zweige trieben raschelnd in dem leichten Wind, der durch das Gras strich.
    Das ist es, dachte er. Hier ist es passiert.
    Sein Atem schien plötzlich zu laut. Mit pochendem Herzen streifte er seinen Rucksack ab, zog den Reißverschluss auf und nahm seine Kamera heraus. Du musst alles dokumentieren, dachte er. Octagon wird versuchen, dich als Lügner hinzustellen. Sie werden alles daransetzen, deine Aussagen in Zweifel zu ziehen, und deshalb musst du dir deine Verteidigung zurechtlegen. Du musst beweisen können, dass du die Wahrheit sagst.
    Er trat auf die Lichtung hinaus und ging auf einen Haufen schwarzer Zweige zu. Als er die Äste mit der Schuhspitze anstieß, stieg ihm der beißende Geruch verkohlten Holzes in die Nase. Er wich zurück, und ein eiskalter Schauer überlief ihn.
    Es waren die Überreste eines Scheiterhaufens.
    Mit verschwitzen Fingern nahm er die Schutzkappe vom Objektiv und begann zu fotografieren. Das Auge an den Sucher gedrückt, schoss er ein Foto nach dem anderen. Eine niedergebrannte Hütte. Eine Kindersandale im Gras. Ein bunter Stofffetzen, herausgerissen aus einem Sari. Wohin er blickte, sah er ins Angesicht des Todes.
    Er schwenkte nach rechts. Eine grüne Wand glitt vor seinem Objektiv vorüber. Gerade wollte er das nächste Foto schießen, als sein Finger auf dem Auslöser mitten in der Bewegung erstarrte.
    Eine Gestalt huschte am äußersten Rand des Bildausschnitts vorüber.
    Er ließ die Kamera sinken und hob den Kopf, starrte zum Waldrand hinüber. Doch es war nichts mehr zu sehen, nur die Äste, die sich im Wind wiegten.
    Da – hatte sich da nicht am Rand seines Gesichtsfelds etwas bewegt? Nur für einen Sekundenbruchteil hatte er eine dunkle Gestalt zwischen den Bäumen erblickt. War es ein Affe gewesen? Er musste weiterfotografieren. Das Tageslicht schwand rapide.
    Er ging an einem gemauerten Brunnen vorbei auf das Gebäude mit dem Blechdach zu. Das hohe Gras streifte seine Hosenbeine, während seine Blicke nach links und rechts schossen. Als er näher kam, erkannte er, dass die Mauern des Gebäudes von Rauch geschwärzt waren. Vor dem Eingang lag ein Haufen Asche mit verkohlten Aststücken darin. Noch ein Scheiterhaufen.
    Er machte einen Bogen darum und warf einen Blick durch die offene Tür.
    Zuerst konnte er in dem Dämmerlicht kaum etwas erkennen. Die Nacht brach schon herein, und drinnen war es noch dunkler, eine Palette von Schwarz- und Grautönen. Er verharrte einen Moment regungslos, während seine Augen sich an die Dunkelheit gewöhnten. Mit wachsendem Erstaunen registrierte er das Glitzern von frischem Wasser in einem irdenen Krug. Den Duft von Gewürzen. Wie war das möglich?
    Hinter ihm knackte ein Zweig.
    Er wirbelte herum.
    Auf der Lichtung stand eine einsame Gestalt. Das Rauschen in den Bäumen ringsum hatte sich gelegt, und selbst die Vögel waren verstummt. Die Gestalt kam mit merkwürdig ungelenken Bewegungen auf Redfield zu und blieb wenige Schritte vor ihm stehen.
    Die Kamera fiel ihm aus den Händen. Er wich entsetzt zurück, den Blick auf die Gestalt geheftet. Es war eine Frau. Und sie hatte kein Gesicht.

1
    Man nannte sie die »Königin der Toten«.
    Zwar wagte es niemand, den Spitznamen in ihrer Gegenwart auszusprechen, doch ab und zu hörte sie, wie sich die Leute ihn hinter ihrem Rücken zuflüsterten, wenn sie zwischen Tatort, Leichenschauhaus und Gerichtssaal ihrem düsteren Geschäft nachging. Bisweilen konnte sie einen Unterton von finsterem Sarkasmus aus den Kommentaren heraushören: Ach, sieh da, die Herrin der Unterwelt holt wieder eine arme Seele in ihr Reich! Manchmal schwang auch ein nervöses Tremolo in

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