Töchter des Schweigens
Wichtigste ist jetzt erst einmal, hinaus auf die Straße zu kommen. Wenn sie Zeit hätte, würde sie am liebsten nach Hause gehen, duschen und vor dem Morgenumzug noch ein paar Stunden schlafen, aber es ist schon fast vier, und sie darf ihren Schminktermin nicht verpassen.
Auf der Höhe der Calle Nueva greift Manolo, der den Mund nicht aufgemacht hat, seit sie das cuartelillo verlassen haben, nach ihrer Hand und lächelt sie an.
»Im Grunde bin ich sehr stolz auf dich, Marga. Es stinkt mir natürlich ein bisschen, aber es freut mich auch. Du bist das, was man ein anständiges Mädchen nennt. Jetzt bin ich sicher, dass du noch Jungfrau bist.«
Juni 2007
»Verzeih, dass ich so früh bin, Ana, aber später wäre das Taxi nicht durchgekommen wegen der Umzüge und Straßensperren. Und ich wollte Ingrid das Auto dalassen, damit sie später nachkommen kann. Ich habe dir auch gar nichts mitgebracht, alle Geschäfte waren geschlossen.«
Ana steht in der Tür und hört sich belustigt ihre Entschuldigungen an.
»Schon gut, rein mit dir, und spar dir deine Vorträge. Das ist doch kein Höflichkeitsbesuch. Außerdem bin ich froh, dass du früher bist, so haben wir noch ein Weilchen für uns, bis die anderen da sind, und können auf der Terrasse in aller Ruhe ein Bier trinken.«
Sie durchquerten das Wohnzimmer und traten in den Garten hinaus, wo Ana bereits einen großen Tisch unter einem riesigen weißen Sonnenschirm gedeckt hatte.
»Du bist ja ein richtiges Hausmütterchen, Ana«, sagte Rita mit einem Blick über die Blumenrabatten, die Schaukel, den Tisch mit den zueinander passenden Tellern, Gläsern und Servietten in warmen Farbtönen. »Wer hätte das vor dreißig Jahren geahnt?«
»Erstaunlich, was? Sogar mir kommt es manchmal komisch vor, als würde ich Mama und Papa spielen, aber seit Ricky auf der Welt ist und wir hierhergezogen sind, macht es mir Spaß zu putzen, zu kochen, den Haushalt zu versorgen und all das. Es ist wohl das Alter …«
»Ich weiß nicht, meine Liebe. Mich hat das Alter nicht hausfraulicher gemacht.«
»Aber du hast andere Dinge zu tun.«
»Du doch auch. Und obendrein irrwitzige Arbeitszeiten, nehme ich an.«
»Ja, unsere Arbeitszeiten sind wirklich ein Kreuz. David mit seinen Bereitschaftsdiensten und was sonst noch so dazwischenkommt, und ich mit meinen Entbindungen … Ein Glück, dass ich meine Mutter habe, die immer bereit ist einzuspringen, wenn es nottut.«
»Aber es geht dir gut, nicht wahr?«
Ana seufzte, machte zwei Bier auf und setzte sich ihrer Freundin gegenüber.
»Ja. Es geht mir gut. Aber es ist … ich weiß nicht … als ob das Ganze eine Blase wäre, die jeden Augenblick zerplatzen kann. Ich kann es kaum fassen und bin unbewusst ständig damit beschäftigt, das Leben mit aller Macht zu genießen, alles auszukosten, mir alles einzuprägen … für später, wenn es vorbei ist.«
»Warum sollte es vorbeigehen? Du bist doch nicht krank oder so?«
Ana schüttelte den Kopf.
»Nein. Ich lasse mich jedes Jahr untersuchen und bin anscheinend frisch wie eine Rose. Wir sind alle gesund.«
»Warum also?«
»Keine Ahnung. Es ist eigenartig. So ein vages Angstgefühl. Als … als hätte ich mich ohne Einladung zu einem Festbankett geschlichen und könnte jeden Moment ertappt werden.«
Rita lachte.
»Mach dich nicht verrückt. Das geht mir auch manchmal so. Zum Beispiel, als mein Produzent und ich vor zwei Jahren zum Empfang bei der Königin geladen waren und, flankiert von der königlichen Garde, die Freitreppe hinaufstiegen, da dachte ich bei jeder Kontrolle: Jetzt werden sie mir gleich sagen, dass es ein Irrtum war, und mich wegjagen. Aber in deinem Fall … Es ist doch das Normalste von der Welt, eine Familie zu haben und ein Haus, in dem man wohnt, und eine Arbeit, die man gern tut oder zumindest nicht allzu ungern. Das ist doch nicht zu viel verlangt.«
»Mag ja sein.«
»Übrigens, wie bist du eigentlich darauf gekommen, Geburtshelferin zu werden?«
»Hebamme.«
»Na gut, Hebamme. Nur stelle ich mir darunter immer eine ältere Frau vor, eine Art römische Patrizierin.«
»Ich bin fünfzig, Rita.«
»Na und? Ich bin einundfünfzig.«
»Das heißt, ich bin eine ältere Frau«, sagte Ana mit Betonung auf »bin«. »Und warum ich Hebamme geworden bin … keine Ahnung. Nach der Schule habe ich eine Menge gemacht, viele kleine Jobs hier und da. Ich habe erst ein paar Jahre in Barcelona gelebt, dann in Madrid und eines Tages … Du wirst es nicht glauben, weil es
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