Töchter des Schweigens
meinem Leben gemacht habe, Ana, bloß weil ich mich nicht getraut habe, Nein zu sagen! Ich habe sie eines Abends im Theater getroffen. Ich war mit meiner Mutter dort, wir begegneten uns im Foyer, plauderten ein bisschen, und am nächsten Tag in der Schule fragte sie mich, ob mir das Werk gefallen habe. Sie hörte mir sehr aufmerksam zu und gestand mir zum Schluss, dass sie eingeschlafen wäre und darum nichts mitbekommen hätte. Daraufhin begann sie, mich nach und nach in alle möglichen Theaterstücke einzuladen, sogar ins Kino. Mir war es lieb, dass sie mir den Eintritt bezahlte, und ihr war es lieb, dass ich nicht fragte, wo sie gewesen war. So ergab eines das andere, und ehe ich mich versah, konnte ich nicht mehr Nein sagen. Oder ich glaubte, es nicht mehr zu können. Aber egal, so schlimm war es nun auch wieder nicht.«
»Das heißt«, sagte Ana, »auch du hattest deine Geheimnisse. Davon haben wir nie etwas bemerkt.«
»Das war ja der Witz dabei. Wenn ihr es erfahren hättet, wäre es mit dem Geheimnis aus gewesen. Abgesehen davon war es nicht mein Geheimnis, das ich euch hätte verraten können. Es war Doña Bárbaras Geheimnis. Sie hätte ihre Autorität vor der Klasse verloren, sie wäre erpressbar geworden.«
Ana rieb sich fröstelnd die Arme.
»Ja, das ist etwas Furchtbares. Erpressung war für mich schon immer das übelste aller Verbrechen. Mit der Angst der Leute spielen, um sie zu etwas zu zwingen.«
»Zum Zahlen, für gewöhnlich.«
»Nicht nur.«
Gerade als Rita fragen wollte, was sie damit meinte und ob David ihr etwas Interessantes erzählt hatte, das sie in einem Drehbuch verwenden könnte, ertönte vor dem Haus ein wildes Hupen, und Ana stand mit breitem Lächeln auf.
»Carmen, unauffällig wie immer«, bemerkte sie, schon auf dem Weg zur Tür.
Kurz darauf sah Rita die beiden schwatzend und lachend auf sich zukommen und erhob sich, um Carmen zu umarmen, die geschminkt war wie zu einer Party, in winzigen Shorts und hochhackigen, mit Schmucksteinchen besetzten Sandalen.
»Na, ihr alten Nervensägen, gebt zu, dass ihr von früher geredet habt!« Beide lächelten zerknirscht. »Na schön, wenn ihr euch schon gegenseitig auf den neuesten Stand gebracht habt, gebt ihr mir jetzt was Gutes zu trinken, und ich sorge mit meiner Kreuzfahrt dafür, dass ihr blass werdet vor Neid. Wir haben nämlich jetzt die Route festgelegt: achtzehn Tage durch die Karibik, Mädels!«
»Mit Felipe«, sagte Ana in der klaren Absicht, sie zu piesacken.
»Besser den Spatz in der Hand …«, entgegnete Carmen ungerührt. »Wie wär’s mit einer Margarita zum Aufwärmen?«
In diesem Moment schrillte die Türklingel, und Ana entschuldigte sich mit einer Handbewegung.
»Mix du sie, Rita, tu mir den Gefallen.«
»Ich kenne mich mit diesem Tuntengesöff nicht aus.«
Rita stand neben dem Tisch mit den Getränken und studierte die Flaschen.
»Gib her, Künstlerin, ich mach ihn mir selbst. Kannst ja schon mal die Limetten auspressen. Wie gut Ana mich doch kennt. Sie hat sogar Limetten für mich gekauft!«
»Trinkst du nicht zu viel, Carmen? Du übertreibst es ziemlich damit, oder?«
»Ich würde es lieber mit anderen Sachen übertreiben, das geb ich zu …, aber wenigstens kann man es mit dem Trinken übertreiben, ohne dass man jemanden dazu braucht. Und wenn wir schon einmal dabei sind: Du rauchst wie ein Schlot.«
Rita betrachtete die qualmende Zigarette in ihrer linken Hand, versuchte sich zu erinnern, wann sie sie angesteckt hatte, und ihr schien, dass Carmen recht hatte, also sagte sie nichts und nahm sich noch ein eiskaltes Bier.
Teresa brachte ein riesiges Tablett mit, das mit Alufolie abgedeckt war.
»Ich habe Tiramisu gemacht, Mädels. Einmal ist keinmal. Heute habe ich sogar vor, Alkohol zu trinken, damit ihr’s nur wisst.«
»Magst du eine Margarita?«
»Einverstanden! Ich glaube, so was habe ich in meinem ganzen Leben noch nicht getrunken, aber heute bin ich zu allem bereit.«
Lena hatte einen Umweg durch die Küche gemacht, um dort einen Korb frische Austern abzustellen.
»Lena, sag, was ich dir einschenken soll!« Carmen hatte sich zum Barkeeper der Gruppe aufgeschwungen.
»Erinnerst du dich an den Alaska, den wir immer auf Feten getrunken haben, wenn wir uns snobistisch geben wollten?«
»Dieses eklige Zeug?«
»Ich mochte es.«
»Aber das war doch nur Coca-Cola mit süßer Kondensmilch und viel Eis.«
»Na ja, manchmal haben wir einen Schuss Cognac reingetan.«
»So eine Sauerei
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