Töchter des Schweigens
Lena hat gearbeitet wie ein Tier, damit es ihm an nichts fehlte. Als sie mir vor Jahren sagte, dass sie trotz der vielen Bücher, die sie übersetzte, und der vielen Gutachten, die sie für die Verlage schrieb, nicht über die Runden komme, beschäftigte ich sie als Sprechstundenhilfe in meiner Praxis. Um acht ging sie nach Hause und übersetzte noch bis tief in die Nacht.«
»Rufst du ihn an?«, fragte Ana.
»Jeremy? Na klar. Er hat nicht viel für mich übrig, aber ich glaube, das sollte tatsächlich ich tun.«
»Wie ist sie nur auf den Namen Jeremy gekommen?«, wunderte sich Rita.
»Das ist eine lange Geschichte«, sagte Teresa und spähte über Anas Schulter. »Da kommt dein Mann.«
Rita und Ana wandten sich um und sahen David entgegen, der mit ausholenden Schritten die Allee überquerte und sie mit den Augen suchte. Als er ihren Tisch erreicht hatte, begrüßte er Teresa und bedeutete Rita mit einer Geste, sie möge ihm in die Bar folgen.
»Ich muss dir ein paar Fragen stellen, wenn es dir recht ist. Gehen wir hinein?«
Ana und Teresa wechselten einen besorgten Blick.
»Die berühmten Routinefragen?«, erkundigte sich Ana mit gezwungenem Lächeln.
»Mehr oder weniger. Wir sind gleich wieder da.«
David bestellte einen Kaffee, und sie setzten sich an die Theke.
»Also, Rita, korrigiere mich, wenn ich mich täusche. Ich fasse noch mal zusammen, was du mir vorhin gesagt hast: Du warst mit Lena um acht Uhr verabredet. Du warst ein paar Minuten zu früh und hast dir vor dem Haus noch ein wenig die Zeit vertrieben. Als ein Nachbar herauskam, bist du hineingegangen. Wir haben ihn noch nicht gefunden, werden ihn aber später überprüfen. Reine Formsache, du weißt schon. Die Wohnungstür war offen, du hast eine Flasche Wein und einen Blumenstrauß auf dem Wohnzimmertisch zurückgelassen, hast dich auf die Suche nach Lena begeben und sie verblutet in der Badewanne gefunden. Du hast sofort Ana angerufen und nichts angefasst oder verändert. Richtig?«
»Ja. Zumindest glaube ich das. Ich meine, ich weiß nicht genau, ob ich etwas angefasst habe, während ich Lena suchte, aber ich habe nichts verändert und sie nicht berührt. Es genügte, sie anzusehen. Ich bin mir nicht mehr sicher, was ich Ana gesagt habe, aber einen Arzt hat Lena nicht mehr gebraucht. Es war ganz offensichtlich nichts mehr zu machen. Ah, ich glaube, ich habe ein bisschen ins Waschbecken gekotzt. Nur Galle. Ich hatte seit Stunden nichts gegessen.«
»Warst du früher schon einmal in Lenas Wohnung?« David war höflich, aber in seinen Fragen lag eine Kälte, die Rita aus früheren Begegnungen nicht kannte.
»Nein. Das heißt, ja, aber das ist schon über dreißig Jahre her. In ihrer Wohnung, so wie sie heute ist, war ich noch nie. Ich bin erst seit knapp zwei Wochen hier.«
»Und was wolltest du bei ihr?«
»Zu Abend essen, das habe ich dir doch schon gesagt. Nach der Party am Samstag in eurem Haus hatte Lena mich für heute Abend eingeladen, weil sie wusste, dass Ingrid nach Andalusien fahren wollte und wir beide das Bedürfnis hatten, ein paar Stunden für uns zu haben, um uns gegenseitig aus unserem Leben zu erzählen.«
»Hast du Lenas Computer gesehen?«
Rita fand Davids Fragen immer seltsamer, war aber entschlossen, sich nicht einschüchtern zu lassen.
»Ja, von hinten. Die Tür zu ihrem Arbeitszimmer war offen. Ich weiß nicht einmal, ob er eingeschaltet war.« Plötzlich ging Rita ein Licht auf. »Hat sie einen Abschiedsbrief auf dem PC hinterlassen?«
»Sie hat tatsächlich etwas hinterlassen, aber ohne Unterschrift, wie du dir denken kannst. Seltsamerweise sind es Sätze aus deinen Filmen, wie mir scheint, insbesondere aus dem letzten.«
»Aus Das Geheimnis ?«
»Ja. Das erste Wort ist Geheimnis , aber man versteht nicht recht, worum es in dem Text geht.«
»Wenn du ihn mir zeigst, kommt mir vielleicht eine Idee, was sie damit sagen wollte.«
»Danke. Wir werden sehen.« David sah Rita an, unschlüssig, ob sie etwas zu verbergen suchte, ob sie ihm etwas verschwieg, wobei er einerseits zu der Überzeugung neigte, dass sie mit diesem Todesfall nichts zu tun hatte, andererseits aber deutlich spürte, dass da noch etwas war, was sie ihm bislang vorenthielt. »Hör zu, Rita, ich will dir nicht auf die Nerven gehen«, setzte er schließlich an, »aber denk bitte nach, ob es nicht irgendetwas gibt, das du mir noch nicht gesagt hast und das helfen könnte nachzuvollziehen, was sich heute Abend in Lenas Wohnung abgespielt
Weitere Kostenlose Bücher