Töchter des Schweigens
gemacht.«
Sie saßen stumm da, den Blick gedankenverloren in die rötlichen Wolken gerichtet, die sich im Westen über dem Berg Bolón türmten. Nach und nach füllte sich das Lokal mit Gästen, die zum Aperitif kamen, scherzten und lachten, ohne die zwei Frauen zu beachten, die jetzt beinahe flüsternd ein für sie beide höchst brisantes Thema besprachen.
»Wir alle haben dir irgendwann einmal unsere Geheimnisse anvertraut, nicht wahr?«
Rita zuckte mit den Schultern und steckte sich eine weitere Zigarette an.
»Vermutlich, aber ich erinnere mich nicht mehr daran. Das waren die Geheimnisse fünfzehnjähriger Mädchen, die haben längst keine Bedeutung mehr.«
»Ich habe dir erzählt, dass meine Mutter einen Liebhaber hatte, weißt du noch?«
»Ja. Jetzt, da du es sagst, weiß ich es wieder, aber ich habe in den letzten dreißig Jahren nicht daran gedacht.«
»Aber ich weiß, dass du es weißt, und das verbindet uns. Wie das andere auch.«
»Hör auf, Ana, um Gottes willen. Ich kann nicht mehr. Es macht mich krank zu denken, dass Lena sich deshalb umgebracht haben könnte.«
»Ich bin der Meinung, dass man die Dinge aussprechen muss, einmal und immer wieder, bis sie ihre zerstörerische Macht über uns verloren haben. Es war ein Fehler zu schweigen.«
»Hast du es David erzählt? Weiß er, was in jenem Sommer geschehen ist?« Anas Antwort gewiss, sah Rita ihr provozierend in die Augen. Erwartungsgemäß senkte Ana den Blick.
»Nein. Nie. Keinem Menschen.«
»Siehst du? Genau wie ich. Wie alle anderen. Ingrid wusste bis zum letzten Samstag auch nichts. Und selbst jetzt weiß sie nicht einmal die Hälfte.«
»Aber David ist Polizist.«
In diesem Moment trat Teresa an ihren Tisch, und beide standen auf, um sie zu umarmen und ihr zu berichten, was geschehen war. Daraufhin saßen die drei da wie kleine Mädchen und sahen sich an, mit Tränen in den Augen und dem verängstigten Gesichtsausdruck von Kindern, die darauf warten, dass ein Erwachsener kommt und das Problem löst.
»Lena war immer die labilste«, fasste Teresa mit gewohnter Selbstverständlichkeit die Lage zusammen. »Sie war lange in Therapie, und ich war sicher, dass sie es überwunden hatte. Offenbar kennt man niemanden je wirklich. Habt ihr denn nichts zu trinken bestellt?«
Ana und Rita sahen sich verblüfft an. Es war ihnen gar nicht aufgefallen, dass sich kein Kellner ihrem Tisch genähert hatte.
»Ich brauche Wasser. Was wollt ihr?«
Wie beruhigend es ist, Teresa zu haben, dachte Rita. Ana hat recht, Teresa ist das Hirn der Clique.
»Soll ich Carmen und Candela anrufen?«, fragte Ana, während Teresa Ausschau nach dem Kellner hielt.
»Nein. Noch nicht. Wozu? Carmen wird ausrasten und uns für alles verantwortlich machen, was ihr in den Sinn kommt, und Candela wird miese Witze reißen, damit man ihr die Ergriffenheit nicht anmerkt und wir bloß nicht denken, sie sei auch nur aus Fleisch und Blut. Wir rufen sie morgen an, wenn wir mehr wissen. Ist David noch in Lenas Wohnung?«
Ana nickte.
»Er hat uns gebeten, hier zu warten. Er kommt her, sobald sie fertig sind.«
»Na ja, die Sache dürfte einfach sein. Sobald der Richter die Leiche freigibt und sie uns sagen, ob eine Autopsie gemacht wird oder nicht, denken wir über die Beisetzung nach. Lena hatte keine Familie mehr, und ihr Sohn lebt in den Vereinigten Staaten. Man wird ihn benachrichtigen und schon mal einiges in die Wege leiten müssen, bis er kommen kann.«
»Der arme Junge«, sagte Ana. »Das wird furchtbar.«
Teresa legte den Kopf zur Seite und sah sie an.
»Wenn man bedenkt, dass er seine Mutter vor vier Jahren das letzte Mal besucht hat, obwohl er gut verdient, dann wird ihn Lenas Tod wohl kaum um den Schlaf bringen. Es kann gut sein, dass es zeitlich gerade nicht in seine Pläne passt und er mir sagt, wir sollen sie ohne ihn beerdigen, dass er kommt, sobald er es einrichten kann, um sich um die Erbschaft zu kümmern.«
»Du kannst den Knaben wohl nicht besonders gut leiden«, bemerkte Rita und goss drei Gläser Wasser ein.
»Der Knabe ist dreißig Jahre alt und hat seine Mutter immer wie einen Putzlappen behandelt, trotz allem, was sie für ihn getan hat. Lena hatte bis zuletzt drei Jobs, um ihm einen höheren Lebensstandard zu ermöglichen, als er sich selbst leisten könnte. Der Junge ist intelligent, das schon, er hatte Stipendien für die besten Universitäten, und vergangenes Jahr hat er am Massachusetts Institute of Technology seinen Doktor gemacht, aber
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