Töchter des Schweigens
warst so besonnen, so brav …, eine so vorbildliche Tochter. Du hast mir das Leben gerettet.« Mit einer Hand, die von dem Daiquiri-Glas eiskalt war, fasste Carmen nach Ritas Hand und drückte sie.
»Jetzt übertreibst du aber!«
»Ich übertreibe kein bisschen. Oder erinnerst du dich auch nicht mehr an die legendären Prügel meines Vaters?«
»Dein Vater hat dich verprügelt?«, fragte Rita automatisch, als ihr schlagartig wieder einfiel, was Carmen ihr eines Nachmittags vor vielen Jahren erzählt hatte.
»Mich, meine Schwester und meine Mutter. Natürlich immer nur zu unserem Besten.« Sie verzog die Lippen zu einer Grimasse, die wenig mit einem Lächeln zu tun hatte. »Du warst die Einzige, die davon wusste. Deshalb hast du das mit Mati auch so ernst genommen und bist damit zu meinen Eltern gegangen. Als ich schwanger wurde, war mein größter Horror, dass mein Vater mich totschlagen könnte, und du warst nicht da, um es zu verhindern.« Mit den Wassertropfen, die von ihrem Glas rannen, zeichnete Carmen feuchte Kreise auf den Tisch. »Deshalb haben wir es zuerst Manolos Eltern gesagt und sind dann alle zusammen zu meinen Eltern gegangen, um die Hochzeit zu organisieren. Am Abend haben meine Schwester und ich uns in unserem Zimmer eingeschlossen und gehört, wie unser Vater unsere Mutter verprügelte. Es war grauenhaft.«
Carmen starrt auf die Wasserkringel, die sie auf den Tisch gemalt hat, und sieht im Geist zwei verängstigte junge Mädchen, die sich im Bett aneinanderklammern und auf die gedämpften Schreie horchen, die durch die geschlossene Zimmertür dringen, auf das Krachen umgestoßener Gegenstände, auf die Flüche ihres Vaters, der zuschlägt und beleidigt, immer wieder zuschlägt und beleidigt, das heftige Zuknallen der Wohnungstür und dann die lange, lange Stille, durchsetzt von einem Wimmern wie von einem verschreckten kleinen Tier, bis sie genügend Mut gefasst haben, um auf Zehenspitzen aus dem Zimmer und ins elterliche Schlafzimmer zu schleichen, wo ihre Mutter in einer Ecke kauert und sich ein Auge hält, aus dem rot glänzendes Blut fließt und zwischen ihren Fingern hervorrinnt. »Ich bin gestolpert und gegen die Nachttischkante gefallen«, stammelt die Gestalt im Nachthemd und beeilt sich, die Ärmel herunterzuziehen, damit man ihre von blauen Flecken übersäten Arme nicht sieht. »Ich werde immer tollpatschiger. Papa ist schnell zur Nachtapotheke gegangen. Geht wieder ins Bett, Kinder, es ist schon spät.«
Die Mädchen wechseln stumm einen Blick, und stumm gehen sie zur Tür. »Wie konntest du Papa nur solchen Kummer machen, Carmen?«, hören sie sie aus der Ecke sagen. »Wie konntest du uns das antun?«
»Wie geht es deiner Mutter?« Die Frage kam von weit her, und es dauerte eine Sekunde, bis Carmen begriff, dass Rita mit ihr sprach, dass sie im Cotton Club waren und sie ihren Daiquiri schon wieder ausgetrunken hatte.
»Gut. Ausgezeichnet. Seit sie Witwe ist, geht es ihr prächtig. Sie geht mit ihren Freundinnen aus, verreist … sie ist endlich frei. Die Enkelinnen brauchen sie auch nicht mehr – stell dir vor, die eine ist schon Anfang dreißig, die andere über zwanzig –, und so lebt sie jetzt ihr eigenes Leben. Ich kriege sie fast nie zu Gesicht.«
»Und ihr redet nie darüber?«
»Worüber? Über Papa? Nein. Wozu? Es gibt Dinge, die man besser vergisst. Dinge, die tot und begraben sind und auf die man, um weitermachen zu können, viel Erde werfen muss. Sehr viel. Du weißt, wovon ich rede, nicht wahr?«
»Ich?«
»In jedem Leben gibt es solche Dinge, Rita. Manchen von uns gelingt es, sie zu vergessen, anderen nicht. Aber wenn man nicht davon spricht, sind sie früher oder später verschwunden. Darum ist es wichtig, darüber zu schweigen.«
»Ich weiß nicht, Carmen.«
»Aber ich. Glaub mir.« Damit schien für Carmen eine Angelegenheit erledigt zu sein, die Rita nicht ganz verstanden hatte, und mit einem Mal wirkte sie viel gelöster. »Chema! Los, Süßer, mach uns noch einen Letzten.«
»Sollen wir vor dem Essen wirklich noch einen Daiquiri trinken?« Rita grinste, wie immer, wenn sie auf nüchternen Magen Alkohol trank.
»Das Mittagessen fällt bei mir flach. Ich muss an meine Figur denken, Kindchen. Du natürlich nicht, du warst immer dünn. Will Ingrid wirklich wegfahren und Moros y Cristianos verpassen? Sie könnte wenigstens noch einen Tag bleiben und sich den ersten Umzug ansehen. Als Ausländerin gefällt ihr das bestimmt.«
»Sie ist nicht wirklich
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