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Töchter des Schweigens

Töchter des Schweigens

Titel: Töchter des Schweigens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: barcelo
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nicht mehr glaubt, wie es sie im Diesseits für Frauen wie sie gibt, für das kleine Mädchen, das sie einmal war und jedes Mal wieder ist, wenn die Erinnerungen sie überfallen.
    Sie holt Lenas E-Mails heraus und liest noch einmal die, die ihr am besten gefallen: die über den Kuchen, über Margas Landhaus, über das Moros-y-Cristianos -Fest …, alle, in denen es um die Zeit nach Onkel Ismael und vor Mallorca geht. Dann knipst sie das Leselämpchen aus, schließt wieder die Augen und verspürt den unbestimmten Wunsch, tot zu sein wie Lena, endlich Ruhe zu finden.
     

1974
     
    Auf dem Rückweg von den Tropfsteinhöhlen haben sie an einer großen Tankstelle Rast gemacht, wo es auch eine Cafeteria, einen Andenkenladen und einen Kinderspielplatz gibt. Die Lehrer sind hineingegangen, um einen Kaffee zu trinken, und die Schüler haben sich ein Eis gekauft und sich dann verstreut, teils auf die Schaukeln und Rutschbahnen, wo sie johlend und lachend herumalbern, teils auf den Laden, in dem man neben typischen Produkten aus Mallorca wie sobrasada – Paprikawurst – und ensaimadas – Hefeschnecken – auch T-Shirts, Sonnenbrillen, Halsketten aus Olivenholz und grässlichen Kitsch kaufen kann, bemalte Serviettenspender, Rückenkratzer in Form einer Hand an einem langen Stiel, Zahnstocherhalter mit einem grellbunten Pärchen darauf, die einige der Mädchen ihren Großmüttern mitbringen wollen.
    Das Eis, ein cremiger, spiralförmiger Kegel aus einer Maschine, wie man sie in Elda damals noch nicht kennt, hat eine sonderbare Farbe. »Guck mal, grünes Eis. Aus was das wohl ist?« »Hier steht Pistazie.« Lachen und Mutmaßungen. »Und was, zum Kuckuck, ist Pistazie?« Aber es schmeckt gut, und es ist etwas, das sie noch nie gekostet haben, wie so vieles auf Mallorca.
    Als plötzlich vom Parkplatz die Schreie einer weiblichen Stimme kommen, horchen sie auf, wechseln unentschlossene Blicke und eilen aus dem Laden, getrieben vor allem von ihrer Neugierde und auch von einem vagen Bedürfnis zu helfen.
    Neben einem gelben Dodge ohrfeigt ein Mann mit einer dicken Goldkette und schwarzem, bis zum Nabel aufgeknöpftem Hemd eine Frau mit Sonnenbrille in Sandalen mit schwindelerregenden Absätzen und einem weißen Baumwollhemdchen ohne Büstenhalter. Ihre großen Brüste schwingen bei jedem Schlag des Mannes, und ihr knallrot geschminkter Mund beginnt zu bluten.
    Ein paar Jungen aus ihrer Gruppe sind vom Spielplatz herübergekommen und starren wie hypnotisiert auf die Szene, vergraben die Hände in den Taschen ihrer Jeans und lecken sich die Lippen.
    Während der Mann auf sie einschlägt, beschimpft er die Frau in einer Sprache, die sie nicht verstehen. Die Frau schreit, verteidigt sich aber lediglich, indem sie die Unterarme hebt, um zu verhindern, dass seine Hände ihr Gesicht treffen. Mit einem Mal, als habe er genug von dem Spiel, stößt er sie von sich und wendet sich zum Auto, wirbelt jedoch im nächsten Moment wieder herum und versetzt ihr einen Fausthieb in den Magen, dass sie sich vor Schmerzen krümmt und vor ihm auf die Knie fällt. Eine ihrer Sandalen bleibt am Bordstein hängen, das Riemchen reißt, und der Absatz fliegt mehrere Meter durch die Luft.
    Daraufhin beginnt der Mann, auf die am Boden liegende Frau einzutreten, und mit einem Mal, ohne dass jemand hätte sagen können, wie es dazu kam, stürzen sich Carmen, Ana und Magda auf das Paar, versuchen, die Frau wegzuziehen und traktieren den Mann mit den Fingernägeln. Carmen brüllt: »Lassen Sie sie in Ruhe, lassen Sie sie in Ruhe, hören Sie auf!« Als der Ausländer sich von seiner Verblüffung erholt hat, begreifen die Jungen, dass sie etwas unternehmen müssen, also gehen drei von ihnen ebenfalls dazwischen, um ihren Kameradinnen beizustehen, und der Mann sieht ein, dass er gegen sechs Jugendliche keine Chance hat, also packt er die Frau und schiebt sie gewaltsam ins Auto. Mit quietschenden Reifen braust er los und die Straße hinunter, die in der Mittagshitze zu flirren scheint.
    In diesem Augenblick kommen die Lehrer aus der Cafeteria, und der Direktor fährt seine Schüler an.
    »Darf ich fragen, was ihr hier treibt?«
    »Er hat sie verprügelt!«, entgegnet Ana aufgebracht.
    »Wenn wir nicht eingegriffen hätten, hätte er sie umgebracht«, fügt Carmen hinzu. Die Jungen nicken mit ernster Miene.
    »Das geht euch überhaupt nichts an.«
    »Don Telmo.« Magda reißt erschrocken die Augen auf. Zum ersten Mal hat sie außerhalb des Kinos gesehen, wie jemand

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