Töchter des Schweigens
alles nichtig im Vergleich zu dem, was vor ihr liegt. Sie will nach Valencia. Sie muss nach Valencia. Sie kann sich nicht vorstellen, in ihrem Dorf zu bleiben oder in Alicante im Fotostudio ihres Onkels zu arbeiten oder sich eine Stelle als Bürokraft zu suchen, womit sie niemals reich würde, während alle anderen studieren und zu bedeutenden Frauen mit einem Beruf, einem Diplom und einem guten Gehalt würden.
Jahrelang wollten ihre Eltern von einem Universitätsstudium nichts wissen, aber mittlerweile hat sie sie schon halb überredet, indem sie angekündigt hat, sie würde sich in Valencia Arbeit suchen, um das Studium zu finanzieren, und Candela, die Geld hat, würde ihr bei der Anschaffung von Büchern und Kleinigkeiten, die sie sonst noch benötigt, unter die Arme greifen.
Aber Candela ist schwierig. Kämpferisch wie sie selbst, dickköpfig, gelegentlich sogar aufbrausend. Aber eben darum gefällt sie ihr, weil sie beinhart ist und Widerstand bietet und es sich herrlich anfühlt, wenn es ihr gelingt, sie zu besiegen. Und jetzt verliebt sich die dumme Ziege in das Musterkind Marga.
Natürlich wird genau das nun ihr Schwachpunkt sein, und diesen gedenkt Mati weidlich auszunutzen. »Wenn du nicht erreichen kannst, dass dein Volk dich liebt, sorge dafür, dass es dich fürchtet.« Das ist das Einzige, was sie aus dem Geschichtsunterricht behalten hat. Machiavelli. Der Fürst . Wie recht Machiavelli hatte! Furcht ist viel mächtiger als Liebe, diese idiotische Empfindung, die die Menschen weich macht. Aber zum Glück nicht nur weich, sondern auch leicht beherrschbar, und sie hält viele Fäden in der Hand; nicht alle, aber viele. Und wenn sie es bisher nicht geschafft hat, innerhalb der Clique Unfrieden zu stiften, weil die sich täglich sehen und ständig zusammenhängen, wird bestimmt alles besser, sobald sie in Valencia sind: Sie werden an unterschiedlichen Fakultäten studieren, neue Freunde und Kommilitonen haben, sich nicht mehr jeden Tag sehen; dann wird es wesentlich leichter sein, sie zu manipulieren, ihnen etwas einzuflüstern, sich einzuschmeicheln …, Zwietracht zu säen, wie ihre Mutter sagt.
Nach und nach werden sie sich voneinander entfernen; sie wird sie voneinander entfernen und aus jeder Einzelnen ein wenig herausholen, genug, um davon zu leben, sich den einen oder anderen Schnickschnack zu gönnen und zu spüren, wie ihre Macht wächst. Sie wird Psychologie studieren und wissenschaftliche Methoden erlernen, um ihr angeborenes Talent zu entfalten. Die Zukunft lässt sich gut an, wenn sie ihre Trümpfe richtig ausspielt, doch dafür ist es unerlässlich, viel zu wissen, viel vom Leben der anderen zu wissen, von den banalsten Dingen bis zu den peinlichsten. Man muss immer hellwach sein, viele Gespräche belauschen, in die Fenster spähen, die Opfer beschatten, sich im rechten Moment verstecken und später hervortreten. »Wissen ist Macht.« »Gebt mir einen festen Punkt, und ich werde die Welt aus den Angeln heben.«
Nur war es manchmal schwer, diesen Punkt zu finden. Bei Candela war er klar: Ihre Familie durfte keinesfalls erfahren, dass sie eine Lesbe war. Bei Marga würde er, wenn sich ihre Vermutungen bestätigten, auch sehr bald klar sein. Carmens Vater war ein Säufer, was er ziemlich gut überspielte, und prügelte seine Frau und seine Töchter, auch wenn das bisher noch niemandem aufgefallen war. Ana war eine Rote, wahrscheinlich Kommunistin, sie hatte beobachtet, wie sie spätabends in eine Fabrik ging, wo sich ihre Gesinnungsgenossen versammelten, und ihre Mutter hatte einen Liebhaber, mit dem sie sich in einer Wohnung in Petrel traf, genau wie Doña Bárbara. So war sie zu ihrer Eins in Literatur gekommen, ohne eine Abschlussarbeit abliefern zu müssen. Gegen Magda hatte sie noch nichts in der Hand, allerdings hatte sie einmal Zigarettenpapier in ihrer Handtasche gesehen und nahm an, dass sie nicht nur Tabak rauchte. Tere war ihr ein Rätsel. Sie war seltsam, sehr seltsam, aber noch hatte sie nicht herausgefunden, warum, und das ärgerte sie, denn ihrer Erfahrung nach hatte jeder Mensch ein Geheimnis, dessen er sich schämte, selbst wenn es so schlimm gar nicht war. Jetzt musste sie sich auf Tere konzentrieren – ohne jedoch die anderen aus den Augen zu verlieren –, um spitzzukriegen, was sie bekümmerte. Anfangs hatte sie gedacht, Tere hätte vielleicht etwas mit Don Javier, weil sie die beiden nach sechs Uhr abends aus dem Religionsseminar kommen sah, als schon längst niemand
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