Tödliche SMS (German Edition)
1.
Samstag, 28. Oktober, 18.30 Uhr
Die Stimme des Schaffners kündigte die Ankunft an. Der Zug fuhr langsam an einer schemenhaften Kulisse aus mehrstöckigen Häusern vorbei. Es war zu dunkel, um Einzelheiten erkennen zu können. Erst nach Penzing, dem 14. Wiener Gemeindebezirk, hatte die Straßenbeleuchtung die Finsternis des Spätherbstes besiegt. Im Vorbeifahren konnte man deutlich Umrisse von Gebäuden und Personen sehen. Trotz der Regentropfen, die gegen das Fenster des Abteils klatschten.
Sie war fast da.
Der Zug würde in wenigen Minuten den Westbahnhof erreichen.
Andrea Reiter rappelte sich aus dem Sitz hoch, nahm ihren graublauen Samsonite von der Gepäckablage, murmelte ein kurzes „Wiedersehen“ und trat auf den Gang hinaus. Die Fahrt war lange und quälend gewesen. Sie hatte ihr Abteil mit einem Mann geteilt, der kein Wort gesprochen, sondern unentwegt aus dem Fenster gestarrt hatte, trotz zunehmender Dunkelheit. Schade, denn Andrea hätte die Reise gerne mit einer netten Plauderei verbracht.
Sie war müde, extrem müde.
Die Aufnahmen in der Kunsthalle München für einen neuen Katalog hatten die halbe Nacht gedauert. Sie musste damit fertig werden. Heute Morgen war im Verlag Abgabetermin gewesen. Die vielen Becher Kaffee, mit denen sie sich wach gehalten hatte, wollte sie nicht zählen. Der leichte Schmerz in der Magengegend ermahnte sie auch so, dass es eindeutig zu viele waren.
Der Zug fuhr in den Bahnhof ein. Kurz darauf zeigte ihr ein grünes Licht an der Seite der Waggontür, dass sie die Tür nun öffnen konnte.
Auf dem Bahnsteig eilten Menschen hin und her. Ein junger Mann hielt ein Schild mit einem Namen darauf in die Luft.
Wien!
„Endlich.“ Andrea stellte ihren Koffer auf dem Bahnsteig neben Gleis acht ab, schloss für einen kurzen Augenblick die Augen und sog den Geruch der Großstadt ein. Jede Stadt hatte einen eigenen Duft. Wien roch nach Marzipan und Sachertorte. Natürlich nicht wirklich. Aber Andrea wollte es so. Eigentlich roch es nach Kälte, Nässe und feuchtem Staub. Nur in Teilen Ottakrings und Hernals hing manchmal tatsächlich der Geruch nach Manner Schnitten in der Luft. Aber das konnte man hier am Westbahnhof natürlich nicht riechen.
Die Schienen und die Zuggarnituren glänzten im Herbstregen. Vielleicht war der Oktober ein ungünstiger Monat, um die Stadt des Walzers zu besuchen. Aber Andrea hatte sich den Zeitpunkt nicht aussuchen können und es war ihr auch völlig egal, denn sie liebte Wien und sie liebte Marzipan und Sachertorte.
Sie horchte. Fast schon hatte sie den für sie melodiösen Klang des Wiener Akzents vergessen geglaubt. Aber er hatte sich genauso in ihr Hirn gebrannt wie die sprichwörtliche Berliner Schnauze. Und jetzt, wo sie die Stimmen der Leute ringsum wahrnahm, kam es ihr vor, als hätte sie die Stadt erst gestern verlassen und nicht schon vor einem Jahr. Ihr letzter Kurzbesuch lag ebenfalls schon einige Zeit zurück. Silke, ihre beste Freundin, hatte sie damals zu einer Filmpremiere eingeladen. Andrea war natürlich sofort gekommen. Die anschließende Feier fand in genau jenem Lokal im ersten Bezirk statt, in dem sie einander vor über sieben Jahren kennengelernt hatten. Damals lebte Andrea in Ottakring. Dort wohnte sie in einemMietshaus, in dem nur wenige Menschen lebten, man kannte sich und grüßte einander. Auch die Frauen, die im Tagespuff im Erdgeschoß arbeiteten. Sie waren einfach ein Teil des Hauses. Manchmal erzählten die Nutten, bei einer Zigarette im Hinterhof, von ihren Freiern. Und das waren viele, auch wenn man die Anzahl der gebrauchten Kondome in den schwarzen Müllcontainern nur grob überschlug.
Doch dann passierte etwas in Andreas Leben, das sie zwang auf Wohnungssuche zu gehen. Sie lernte Silke kennen, die suchte eine Mitbewohnerin. Innerhalb kürzester Zeit waren sie beste Freundinnen geworden und geblieben, auch wenn Andrea wieder seit einem Jahr in München, ihrer Geburtsstadt, arbeitete, als freie fixe Fotografin für mehrere Verlage. Silke schlug sich weiterhin in Wien als freie Regieassistentin durch. Ihrer Freundschaft konnte die Distanz von rund vierhundert Kilometern aber nichts anhaben.
Andrea sah sich um. Aber wo war Silke?
Ihre Freundin war ein etwas schräger Typ. Aber immer für originelle Überraschungen gut. Deshalb war Andrea schon neugierig darauf, was sie sich diesmal ausgedacht hatte. Vor drei Wochen hatte sie eine SMS erhalten. Silke hatte sie im Telegrammstil verfasst:
29. Oktober – STOP
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