Tödliches Rätsel
kleinen Urlaub bitten. Dann gehe ich nach St. Alban’s, um mir Wallingfords Uhr anzusehen.«
Er klappte das Buch zu und seufzte. Er wagte nicht, den Pater Prior anzusprechen; noch immer dachte er mit tiefem Unbehagen an Bruder Nialls Besuch vor wenigen Tagen. Es lag etwas in der Luft. Irgend etwas würde geschehen, das sein Leben verändern würde. Er legte sich auf sein Bett und dachte an Alcest. Athelstan war sicher, daß der junge Mann ein Mörder war, aber für welche Morde war er verantwortlich? Langsam, aber gründlich durchdachte Athelstan noch einmal sämtliche Umstände. Irgend etwas stimmte hier nicht! Er brauchte es nicht aufzuschreiben, er konnte die Probleme im Kopf aufzählen. Er hatte eine Lösung, aber hatte er auch einen Beweis?
»Ich werde abwarten müssen«, dachte er. Bonaventura, der lautlos irgendwoher erschienen war, sprang zu ihm auf das Bett. »Laß uns schlafen«, murmelte Athelstan. »Laß uns schlafen, wenigstens für ein Weilchen.«
Er erwachte von einem lauten Klopfen an der Tür. Jemand rief seinen Namen. Er stand auf, stieg müde die Treppe hinunter und öffnete. Benedicta und Alison Chapler standen draußen.
»Herein, herein!«
Er ließ sie am Tisch Platz nehmen und bewirtete sie mit Ale und dem Rest Brot und Käse, der von seiner Mahlzeit übrig war.
»Bruder«, begann Alison, »ich bitte um Entschuldigung, aber ich bin gekommen, um mich zu verabschieden.«
»Ihr wollt gleich fort?«
»Nein, aber morgen früh geht’s auf die Landstraße nach Epping. Habt Ihr den Mörder meines Bruders gefaßt?«
»Alcest ist im Tower in Haft«, sagte Athelstan. »Man wird ihn vielleicht noch weiter verhören müssen, aber…« Er lächelte sie an. »Morgen früh könnt Ihr gehen. Ich bin sicher, Sir John wird Euch nicht mehr aufhalten.«
»Watkin hat uns von Eurem Wutanfall erzählt«, sagte Benedicta.
»Watkin wird meine Wut noch empfindlicher zu spüren bekommen«, antwortete Athelstan. »Benedicta, die Sache könnte dich interessieren. Bleib doch bis zum Vesperläuten hier. Ihr auch, Mistress Alison. Vielleicht könnt Ihr in Epping eine Geschichte erzählen. Werdet Ihr nach Eurer Rückkehr dort bleiben?«
»Vielleicht.« Sie lächelte ihn mit liebreizendem Gesicht an. »Vielleicht kehre ich auch nach Norfolk zurück.«
»Was?« fragte Athelstan, aber dann wechselte er das Thema. »Kennt Ihr Master Lesures?«
»Den Dokumentenmeister?« Alison verzog das Gesicht. »Edwin hat erzählt, er liebe Knaben. Außerdem sei er faul und tauge wenig, und er kümmere sich nicht um die Arbeit. Ein ängstlicher Mann — Alcest herrsche über ihn und die anderen wie ein Hahn auf dem Mist.«
»Edwin hatte recht.«
Athelstan trat ans Fenster und erkannte, daß er länger geschlafen hatte, als er gedacht hatte. Für eine Weile setzte er sich zu den Frauen. Alison sprach von den Seelenämtern, die sie für ihren verstorbenen Bruder lesen lassen wollte. Athelstan hörte nur mit halbem Ohr zu. Er war müde und ein wenig erschöpft, und er schrak auf, als Cranston polternd hereinkam und Benedicta und Alison lautstark begrüßte.
»Ist der Windhund schon da?« dröhnte er, griff nach dem Bierkrug und trank daraus.
»Wenn Ihr den Sanctus-Mann meint«, sagte Athelstan unwirsch, »nein, Sir, der ist noch nicht da.«
»Nun, bald wird er kommen. Hört doch!« Cranston nahm die Mütze ab und legte den Kopf schräg. »Jeden Augenblick muß er kommen, Bruder.«
Und richtig, Athelstan hörte die Glocken von St. Mary Overy, die über Southwark hinweg erklangen und die Gläubigen — viele waren es nicht — zur Vesper riefen. Benedicta und Alison ließen sich von der Stimmung des Coroner anstecken und richteten sich erwartungsvoll auf, als das Läuten aufhörte.
»Jetzt kommt er doch nicht«, seufzte Cranston. »Ich wette, der Vikar der Hölle hat die Stadt verlassen und sich in die Wälder verdrückt.«
Athelstan schaute zur Tür und erschrak. Eine Gestalt war erschienen und stand auf der Schwelle wie ein Geist.
»Sanctus-Mann?« fragte er und sah fasziniert, wie der Besucher, der — Hose, Hemd und Mantel — ganz in Grau gekleidet war, lautlos hereinkam und die Hände ausstreckte.
»Bruder Athelstan.« Seine Stimme klang leise und liebkosend.
Athelstan ergriff die weiche Hand und schüttelte sie.
»Ich bin der Sanctus-Mann.«
Cranston gaffte die legendäre Gestalt der Londoner Unterwelt staunend an. Es war ein Mann mit einem fröhlichen Engelsgesicht, mit Fältchen an den Augen und rosigen
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