Tödliches Rätsel
Cranston eintraten, erhoben sie sich höflich. Sie waren von angenehmer Erscheinung, das Haar sauber geschnitten, die Gesichter glattrasiert und gewaschen. Sie waren nüchtern gekleidet und trugen dunkle Hemden und enge Hosen. Der blonde Stablegate hatte ein freundliches, stets zum Lächeln bereites Gesicht. Flinstead war dunkler und ziemlich düster. Gleichwohl fühlte Athelstan sich abgestoßen. Verschlagene Männer, dachte er, voller Hohn. Beide Schreiber gaben sich wenig Mühe, ihre Erheiterung über den in ihren Augen so drolligen Coroner zu verhehlen.
Cranston winkte ihnen, Platz zu nehmen, und dann half er Athelstan, eine recht abgenutzte Bank heranzuziehen, um sich ihnen gegenüberzusetzen. Athelstan stellte die Tasche mit dem Schreibzeug zwischen seine Füße und wartete geduldig, während Sir John noch einen Schluck aus dem wunderbaren Weinschlauch nahm. Der Coroner schloß die Augen und rülpste behaglich. Stablegate senkte den Kopf und kicherte. Cranston, der recht wacklig auf der Bank saß, drückte den Stopfen in den Schlauch. Er mußte den Spott mitbekommen haben.
»Ihr seid Master Draytons Schreiber?« begann er schroff. »Ihr habt ihn als letzte lebend gesehen?«
»Wir sind kurz vor der Vesper gegangen«, sagte Flinstead.
»Erzählt mir, was sich zugetragen hat«, sagte Athelstan.
»Das gleiche wie immer«, antwortete Flinstead spitz. »Du bist...?«
»Bruder Athelstan, Pfarrer von St. Erconwald in Southwark.«
»Und mein Secretarius«, dröhnte Cranston.
»Hast du uns im Verdacht, dieses Verbrechen begangen zu haben?«
»Warum sollte ich?« erwiderte Athelstan.
Flinstead wußte anscheinend nicht, was er darauf sagen sollte.
»Bitte«, sagte Athelstan, »beantwortet doch meine Frage. Was hat sich gestern abend zugetragen?«
»Wir haben den Tag wie gewöhnlich beendet«, antwortete Stablegate. »Wir waren in unserer Schreibstube, einer kleinen Kammer, kaum mehr als ein Dachstübchen, weiter unten am Gang. Master Drayton kam wie immer herauf, um uns hinauszubringen. Und bevor du fragst, Bruder: Nein, er hat uns nicht vertraut. Er hat niemandem vertraut. Wir gingen also auf die Straße hinaus. Master Drayton wünschte uns gute Nacht, mißmutig wie immer. Dann schlug er die Tür zu, und wir hörten, wie die Riegel vorgeschoben und die Schlüssel umgedreht wurden.«
»Und dann?«
»Wie immer gingen wir ins >Tanzende Schwein<, eine Schenke in der St. Martin’s Lane bei den Shambles.«
»Und danach?«
»Als wir das Nachtläuten von St. Mary Le Bow hörten, gingen wir nach Hause in die Grubb Street, beim Cripplegate. Wir teilen uns dort eine Kammer.«
»Mistress Aldous, unsere Wirtin, wird bestätigen, daß wir ziemlich erschöpft nach Hause kamen. Wir schliefen bis zum Morgen, standen auf und kamen her.«
»Und?« drängte Athelstan.
»Es war das gleiche wie jeden Morgen, Pater. Wir klopften, wir läuteten. Master Drayton kam dann immer den Gang heruntergeschlurft und ließ uns herein.«
»Aber heute morgen war es anders?«
»Ja, Pater. Wir haben geklopft und geläutet, daß es Tote hätte wecken müssen.« Er lächelte schmal. »Dann kam Flaxwith. Den Rest weißt du.«
»Was weiß ich denn?« fragte Athelstan scharf.
»Nun, wir versuchten, die Fensterläden zu öffnen. Vorder- und Hintertür waren verschlossen und verriegelt wie immer.«
»Und da seid ihr eingebrochen?«
»Ja«, sagte Stablegate. »Ich bin auf James’ Schultern geklettert.«
Er klopfte an den Griff seines Dolches. »Den habe ich durch einen Spalt im Laden geschoben, um den Riegel hochzuheben.«
Sir John war dabei, einzuschlafen; sein Kopf kippte nach vorn, und sein Mund klappte auf. Stablegate grinste hinter vorgehaltener Hand.
»In diesem Fall...«, begann Athelstan mit lauter Stimme und stand auf.
Sir John schrak hoch und kam ebenfalls schwankend auf die Beine. Blinzelnd und breitbeinig stand er da und atmete geräuschvoll durch die Nase. Er sah, daß die beiden Schreiber lachten, und Athelstan schloß die Augen.
»Ihr findet mich komisch, meine Herren?« Cranstons Hand legte sich auf den Dolch in seinem Gürtel. Er trat einen Schritt nach vorn. Sein weißer Bart sträubte sich, und seine wilden blauen Augen quollen aus den Höhlen. »Ihr findet den alten Jack komisch? Weil meine Kerlchen mich schon vor dem Morgengrauen geweckt haben? Und weil der alte Jack ein paar Schluck Wein zu sich genommen hat? Aber ich will euch sagen«, fuhr er fort und atmete Weindunst in die plötzlich ganz ängstlich blickenden
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