Töte, Bajazzo
sich verändert.
Vielleicht war die Stille noch tiefer und intensiver geworden. Benito Kraus kam sich vor wie in einem Käfig eingeschlossen, dessen Wände auf ihn zuwanderten. Würden sie ihn zerdrücken?
War er sich sicher? Nicht ganz, doch er ging davon aus, daß sich in der Finsternis was tat.
Das Phantom der Oper…
Unsinn, das gab es nicht. Hör auf, dich selbst verrückt zu machen. Sei kein Narr, verflucht!
Sosehr er sich auch selbst schalt, er konnte trotzdem die Angst nicht vermeiden. Sie grub sich immer tiefer in seinem Körper, dem Magen entgegen und beeinträchtigte auch die Atmung.
Benito Kraus stand auf. Der Drehstuhl, vom Druck befreit, bewegte sich knarrend unter ihm. Kraus hörte sich selbst zischend atmen. Sein Schreibtisch stand am Rand der Bühne, die Akteure sollten bei den Proben nicht gestört werden. Was vor ihm lag, war die reine Finsternis.
Sie roch nach Staub und hatte sich als trockene Schicht auf seine Kehle gelegt.
Zeit verging.
Sekunden dehnten sich.
Kein Geräusch war zu hören. Zumindest kein fremdes. Er selbst hörte sich schon, das war normal.
Nicht als normal empfand er das Gefühl, von einem Unbekannten belauert zu werden. Jemand umgab ihn, turnte um ihn herum, kam immer näher, und die Finsternis zog sich noch mehr zusammen. Sie entwickelte sich bei ihm zu einer Phobie.
Er bewegte hektisch den Kopf, wobei die Augen weit geöffnet blieben. Er schaute in die Höhe, auch wieder zu Boden, dann nach rechts oder nach links, suchte den unsichtbaren Feind, der sich allerdings noch zurückhielt.
Benito Kraus geriet in Panik. Die Hektik trieb ihm einen Schauer nach dem anderen über den Rücken, das Blut hatte sich seiner Meinung nach erhitzt, es rauschte in seinen Ohren, als säße er dicht am Strand des Ozeans.
Auf einmal war der Schatten da.
Schräg über ihm schwebte der bleiche Fleck wie eine tanzende Marionette.
Der Schrei blieb ihm im Hals stecken. Diesen hellen Schatten bildete er sich nicht ein. Sein Umriß begrenzte die Dunkelheit. Aus dem
›Schatten‹ wurde ein Gesicht.
Gesicht?
Nein, es war eine Maske. Eine bleiche Maske, die geschminkte Larve des Clowns, des Canio, der männlichen Hauptrolle aus der Oper, dieser tragischen Figur, die an seiner Eifersucht letztendlich scheiterte.
Lache, Bajazzo…
Der Prolog und die Eingangsarie kamen ihm in den Sinn. Sekunden dauerte es, bis er feststellte, daß er sich das Lied nicht einbildete. Es wurde tatsächlich gesungen. In einer unheimlichen Ferne, als wäre es aus einer fremden Welt gekommen, die ihren Platz jenseits der normalen eingenommen hatte.
»Hüll dich in Tand nur und schminke dein Antlitz…«
Jedes Wort verstand er. Er verfolgte die Melodie, starrte auf die über dem Bühnenboden schwebende Maske und erkannte, daß etwas mit den Augen geschah. Sie hatten sich mit einer schwarzen Flüssigkeit gefüllt, die von den Ausschnitten nicht mehr gehalten werden konnte und über die Wangen rann.
Zu schlimm, zu schrecklich war die Qual des Canio geworden, der spielen mußte und dabei immer an seine Frau dachte, die ihn genau in diesem Augenblick betrog.
Lache Bajazzo!
Benito Kraus war nicht nach einem Lachen zumute. Die Angst füllte ihn aus, und er bemerkte die Gefahr, die von dieser schwebenden Larve ausging.
Sie bewegte den Mund. Es drangen keine Worte hervor, dennoch sang jemand – wie beim Playback.
Trauer und Wehmut flössen in den Gesang mit ein. Benito Kraus war hin- und hergerissen. Er wußte nicht, was bei ihm stärker war. Die Faszination des Gesangs oder seine eigene Angst. Da hielt sich beides ungefähr die Waage. Gelächter und Weinen zugleich kündete das Ende der Arie an. Jeden Ton kannte der Regieassistent, er war über alles informiert, er wußte auch, wie es in der Oper weiterging.
Verzerrt war ihr Mund. Ein Gefühl strömte ihm entgegen. Der kalte Haß, die eisige Mordlust.
Dann sah er das Messer mit der langen, blitzenden Klinge, die Mordwaffe des Canio auf der Bühne, in der Oper, doch dieses hier, das schräg über ihm schwebte, war echt…
***
Mit einem hellen, optimistisch klingenden Laut stießen die beiden Gläser an den Rändern zusammen. Sie waren mit Champagner gefüllt, und wir wußten beide, daß man der Etikette nach mit Champagner nicht anstieß, aber darüber setzten wir uns hinweg. Diese Situation war eben eine besondere.
»Salute!« rief Mirella Dalera und sang dieses Wort gleichzeitig, sie war eben Künstlerin. »Auf diesen wunderschönen Abend.«
Da stimmte
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