Lösegeld am Henkersberg
1. Klößchen schämt sich
Bevor die Ereignisse sich überstürzten,
herrschte jene Art von Ruhe, die der gewiefte Abenteurer nur mit Mißtrauen
wahrnimmt. Tim dachte: Verdammt ruhig, dieser Montag mittag. Geradezu
friedlich. Aber ich spüre, das bleibt nicht so.
Er kam vom Judo-Training, hatte noch
duschnasse Haare und einen Schal um den Hals gewickelt. Die Sonne schien vom
wolkenlosen Februarhimmel. Den Schnee mußte man mit der Lupe suchen, aber ein
kalter Wind pfiff durch die Straßen.
Tim radelte zum HIGHLIGHT (Glanzlicht)-Kino ,
wo er sich mit Karl und Klößchen verabredet hatte. Von dort sollte es weitergehen
zu Gaby.
An der Kreuzung blockierten Autos
sämtliche Fahrspuren. Die Ampel schaltete — als wäre sie übergeschnappt — in
rasender Schnelligkeit durch alle ihre Farben: rot — gelb — grün — rot — gelb —
grün...
Hupen brüllten auf. Irgendwo kreischte
Blech. Tim quetschte sich rechts an den Wagen vorbei, schob sein Rennrad über
ein Stück Gehweg, saß wieder auf und war auch schon, um die Ecke biegend,
direkt vor dem HIGHLIGHT.
Karl wartete schon. Er hatte ein Bein
über den Fahrradsattel gehängt und polierte seine Nickelbrille.
„Da bin ich.“ Tim stieg ab. „Wo ist
Klößchen?“
Die Frage war berechtigt, denn
Klößchens Rad — verdreckt wie immer — lehnte neben einem Schaukasten mit
Filmbildern an der Kino-Wand.
„Er muß dringend Schokolade kaufen.“
Karl grinste. „In dem Laden dort drüben. So aufgeregt habe ich unseren Willi
noch nie erlebt. Da ist was passiert.“
„Vielleicht ist Hungersnot angesagt.
Was sonst könnte ihn aufregen?“
„Nee, es muß was anderes sein. Er hat
eine Andeutung gemacht, bevor er in den Laden rannte. Den ganzen Vormittag — so
Willi — sei er bei der Polizei gewesen.“
„Ich staune“, meinte Tim und dachte:
Die Ruhe läßt nach, Unwetter zieht auf. Wußte ich’s doch!
Sie blickten über die Straße, wo
Klößchen eben den Laden verließ.
Seit Freitagmittag hatte er, Klößchen,
sich ausgeklinkt aus dem Internatsleben und der TKKG-Bande. Mit seinen Eltern
war er übers — verlängerte — Wochenende nach Kopenhagen gejettet, wo eine
entfernte Verwandte der Familie Sauerlich ihren 99. Geburtstag beging. Die
Jubilarin hatte nur einen Wunsch geäußert — aber den mit Nachdruck: Sie wollte
Willi sehen. Also mußte er mit. Vom Schulunterricht an diesem Montag vormittag
hatte er sich befreien lassen.
Jetzt stopfte er eine Schoko-Tafel
rechts und eine links in die Hosentaschen und wetzte über die Straße.
„Hallo!“ keuchte er. „Tag, Tim!
Wahnsinn!“
„Hallo, Willi! Du siehst gestreßt aus.“
„Ist kein Ausdruck! Das Wochenende in
Kopenhagen war die Hölle. Tante Prisnella hätte mich beinahe geschafft. Das
müßt ihr euch vorstellen: Sie ist 99 geworden, wollte aber zwei Tage feiern.
Und immerzu tanzen. Walzer, Walzer, Walzer. Ich glaube, sie ist nicht mehr ganz
dicht unter ihrem schlohweißen Haar. Wer tanzt denn in diesem Spätherbst des
Lebens stundenlang Walzer? Weil ihr die anderen Tänzer zu lahm waren, wollte
sie unbedingt, daß der Jüngste sie schwenkt. Und das war ich. Jetzt habe ich
mehr Blasen an den Füßen als Haare auf dem Kopf. Ihr wißt doch, daß ich keinen
Walzer kann. Sie konnte ihn auch nicht mehr. Aber einen Tritt hat sie noch wie
ein Libero aus der Fußball-Nationalmannschaft.“
Tim lachte. „Das Leben kann hart sein.
Aber weshalb warst du bei der Polizei?“
Klößchen riß eine Schoko-Tafel auf und
biß in seine Leibspeise.
„Der schärfste Hammer kommt ja noch.
Und gewissermaßen fühle ich mich schuldig. Andererseits wieder nicht. Denn ohne
den Walzer-Streß hätte ich bestimmt anders reagiert. So gesehen müßte ich
meinen Vater, den Schoko-Fabrikanten, verantwortlich machen. Statt mich bei
Tante Prisnella zu entlasten, hat er grinsend Rheuma im linken Knie
vorgetäuscht und nur eine einzige Walzerrunde mit ihr geschwoft. Ich war dann
total erschöpft, als wir heute morgen mit dem Flieger hier ankamen.“
„Aha. Und?“
„Wie ich schon sagte: der schärfste Hammer
— oh, oh, oh!“
„Willst du’s noch hier erzählen?“
fragte Tim. „Oder unterwegs? Oder erst bei Gaby?“
„Bin ja froh“, schnaubte Klößchen, „daß
diese Alice bei ihr ist. Ist sie doch, oder? Wenn die wirklich so enorm was
drauf hat mit ihrer Zeichenkunst, muß sie unbedingt ein Porträt (Bildnis) vom Täter herstellen. Nach meinen Angaben — also ein Phantombild, wie’s die
Polizei
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