Töte, Bajazzo
haben, und deshalb lief ich auf sie zu, weil sie sich auch von mir entfernte und mein Schußwinkel deshalb schlechter wurde.
»Johnnnnnn…!«
Soeben noch hörte ich aus dem irren Kreischen der Sängerin meinen Namen heraus. In diesem Augenblick handelte ich rein reflexhaft. Aus dem Lauf warf ich mich nach vorn, rutschte bäuchlings über den Boden und spürte einen verfluchten Luftzug, den die sich drehende Klinge dicht über mir verursachte.
Sie raste an mir vorbei.
Stoppte.
Ich sprang auf.
Die Maske, verdammt noch mal, die Maske! Gleichzeitig schnellte auch die Klinge hoch. Es kam auf winzige Augenblicke an. In dieser Spanne war die Zeit nicht mehr vorhanden. Alles war eingefroren. Ich fühlte eine Kälte in mir, und jede Bewegung kam mir zeitlupenhaft vor. Aber ich mußte es durchziehen, auch wenn mich die Klinge erwischte und damit anfing, mich zu zerstückeln.
Selbst das Peitschen der Schüsse klang nur gedämpft. Die Echos waren für mich hinter einer Wand aufgeklungen, aber ich hatte mich auf meine Schießkünste verlassen können.
Zweimal war die Maske getroffen worden.
Beide Male direkt im Zentrum!
Und dem geweihten Silber hatte die lebende Totenmaske nichts entgegenzusetzen. Die Maske wurde zerfetzt, sie zersprang in unterschiedlich große Stücke, die auch zu verschiedenen Seiten hin wegflogen. Sie waren wie scharfe Messer, aber sie hatten nicht mehr die Kraft, um den Astralleib weiterhin entstehen zu lassen und damit auch die verdammte Klinge. Sie hätte mich fast erwischt, sie war schon in die Höhe getrudelt und hatte sich dicht an meinem Hals befunden, aber sie fiel nach unten.
Vor meinen Füßen blieb sie liegen. Ich drehte mich auf der Stelle.
Der Astral des Franco Romero stand über seinem eigenen Grab. Noch für einen winzigen Augenblick hielt sich die Gestalt des Bajazzo. Sie riß sogar den Mund auf, und ich rechnete damit, daß sie noch einmal versuchen würde, die Arie zu singen. Gewissermaßen ein letztes Mal, bevor der Vorhang fiel.
Sie schaffte es nicht mehr.
Ein von innen her aufkommender Windstoß hatte sie gepackt. Er beulte die Gestalt aus, die zu einem treibenden und schwebenden Etwas wurde, wobei sich das Gesicht in eine um sich selbst drehende Nebelspirale verwandelte, sofort danach auch den Körper erfaßte, der dann wie eine langgezogene Spindel für einen Moment auf dem echten Grab des Franco Romero tanzte.
Die Spitze tanzte auch nicht mehr lange auf der Graberde, denn sie verwandelte sich in einen Pfeil. Sie stach plötzlich in den Boden, wobei sie das nach sich zog, was sich über ihr befand.
War es Schicksal oder nicht?
Der Astralkörper jedenfalls raste in das Grab hinein. Es ertönte dabei ein seltsames Zischen, das mich an ferne und wütende Schreie aus einer Geisterwelt erinnerte. Dann war alles vorbei.
Nichts hatte sich am Grab verändert, auch der Stein lag noch an derselben Stelle, und die Totenmaske war in zahlreiche Scherben zerbrochen.
Es gab den Bajazzo nicht mehr. Seine letzte Arie war verklungen. Wir konnten aufatmen.
Ich ging zu Mirella Dalera und blieb direkt neben ihr stehen. Sie bemerkte mich und fragte mit leiser Stimme: »Leben wir noch, John?«
»Ja, wir leben.«
Den rechten Arm streckte sie aus. »Bitte, helfen Sie mir hoch.«
Ich tat es, und sie stand kaum auf den Beinen, als sie sich umdrehte und sich von der Stätte des Schreckens entfernte. Romeros Grab bedachte sie mit keinem Blick.
***
Erst im Haus überfiel sie wieder der Schock. Da fing sie plötzlich an zu zittern. Mirella kriegte einen Schüttelfrost, der so stark war, daß die Zähne aufeinander schlugen.
Fieberschauer tobten durch ihren Körper. Ich bot ihr an, einen Arzt zu holen.
»Nein, bitte nicht. Ich brauche keinen Arzt.« Sie blickte mir bittend ins Gesicht. »Ich möchte, daß Sie mir einen anderen Gefallen tun, John – bitte.«
»Wenn ich kann.«
»Lassen Sie mich in den nächsten Stunden nicht allein. Bleiben Sie bei mir. Ich… ich… kann es mit meinen toten Eltern im Haus nicht aushalten, und ich werde erst morgen früh den Beerdigungsunternehmer anrufen können, damit er die Toten abholt.«
»Auch die Polizei muß kommen.«
»Das ist mir egal. Bleiben Sie denn?«
»Natürlich. Sie haben mich gerufen, Mirella, ich bin gekommen. Ich wäre ein Schuft, wenn ich Sie jetzt allein lassen würde.«
»Danke.«
Wir blieben nicht unten, sondern setzten uns in die Küche. Mirella sagte nicht viel, sie weinte mehr, bis sie dann, Mitternacht war schon vorbei,
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