Tolstoi Und Der Lila Sessel
nicht mehr erleben würde – wäre ich dann nach New York gezogen, um ihr näher zu sein, und hätte meinen Mann und unsere vier Söhne in Connecticut sich selbst überlassen? Nein, ich glaube kaum. Anne-Marie wollte mich nicht andauernd um sich haben. Ich war die jüngste von drei Schwestern, Anne-Marie war die älteste, Natasha die mittlere. Ihr Leben lang hatte Anne-Marie uns deutlich gemacht, wann sie Gesellschaft haben wollte und wann nicht, und wir hatten uns daran gehalten.
Wir Schwestern wuchsen in Evanston, Illinois, auf, unsere Eltern waren Einwanderer. Sie waren nach Amerika gekommen, um hier ihr Glück zu suchen, und hatten alle Verwandten und Bekannten zurückgelassen. Wir fünf bildeten eine feste Einheit. Meine Schwestern und ich hatten zwar viele Freundinnen, fühlten uns aber trotzdem meistens fremd. Unsere Familie war anders als andere Familien. Bei uns zu Hause gab es mehr Bücher, mehr Kunst und mehr Staub als bei allen anderen. Wir hatten keine Verwandtschaft in der Nähe, keine Tanten, die auf uns aufpassten, keine Großeltern, die wir in den Ferien besuchten, und keine Cousins als Spielkameraden. Unsere Eltern hatten einen starken Akzent, mein Vater sogar einen ganz fürchterlichen. Meine Mutter studierte, und als ich in den Kindergarten kam, nahm sie eine Vollzeitstelle als Professorin an. Wir Schwestern waren die einzigen Kinder in unserer Gegend, die in der Schule Mittag essen mussten, und wir waren die einzigen Kinder im gesamten Mittleren Westen Amerikas, die neben Sandwichs und Twinkies grüne Paprikaschnitze und harte rote Birnen in der Brotdose hatten.
Bücher waren ein wichtiger Teil unseres Familienlebens, sie standen in jedem Zimmer und wurden jeden Abend von beiden Elternteilen gelesen und vorgelesen. Meine Mutter las uns im Wohnzimmer vor. Ich lag auf dem Teppich, sah hinauf an die rissige Zimmerdecke und lauschte den Sagen um König Artus und seine Tafelrunde. Ritter Gawain mochte ich am liebsten, auch wenn er zweifellos schuld an vielen Problemen mit Jungs war, die ich später hatte: Verglichen mit Gawain waren sie alle viel zu leicht zu verführen. Die schöne Lady Bertilak nähert sich Gawain tagtäglich, aber nie gibt er ihren Küssen nach. Als ich älter wurde, leisteten die Jungen nicht den geringsten Widerstand, wenn ich sie küsste, und dabei stand doch mein guter Ruf auf dem Spiel, nicht ihrer. Nach König Artus waren die Tiere aus Der Wind in den Weiden dran. Doch da ich Camelot kannte, kam mir das Landleben in England ziemlich langweilig vor. Das sogenannte große Abenteuer von Wasserratte und Maulwurf war im Grunde doch nur eine Reihe von Missgeschicken, und die große Schlacht um Schloss Krötenhall brachte mich zum Gähnen. Einfallende Wiesel und eine schleimige Kröte waren nichts, was mich faszinieren könnte.
Sonntagnachmittags wurde ebenfalls gelesen, im Winter drinnen und im Sommer draußen in unserem kleinen Garten hinterm Haus. Erst als ich auf der Highschool war und einen amerikanischen Freund hatte, verbrachte ich einmal einen Sonntagnachmittag vor dem Fernseher. Es war Super-Bowl-Zeit. Der an dem Tag ausnahmsweise überraschend ritterliche Dan Cromer erklärte meinen Eltern und mir sämtliche Spielregeln. Allerdings sprach er danach nie wieder mit mir, auf dem Schulkorridor guckte er mich nicht mehr an, und er rief mich auch nicht zurück, wenn ich ihm zu Hause eine Nachricht hinterließ. Jemand, der keine Ahnung von Football hatte, konnte offensichtlich nicht viel taugen.
Mein erstes eigenes Buch stahl ich aus der Bibliothek meiner Lincolnwood-Grundschule. Es war My Mother is the Most Beautiful Woman in the World von Becky Reyher. Ich habe das Buch heute noch. Es steht zusammen mit anderen Lieblingsbüchern aus meiner Kindheit auf einem Regal im Schlafzimmer, und die Ausleihkarte mit dem Rückgabedatum ist auch noch drin: 6. Dezember 1971. Ich liebte das Buch und konnte es einfach nicht zurückgeben. Ob ich eine Strafgebühr für das Verlieren des Buchs bezahlen musste, weiß ich nicht mehr.
Im Buch wird Varya, ein kleines Mädchen aus der Ukraine, während der Feldarbeit von ihrer Mutter getrennt. Die Leute aus dem Nachbardorf, die in der Nähe Weizen ernten, möchten Varya bei der Suche nach ihrer Mutter helfen, aber die Kleine weiß nichts anderes zu sagen, als dass ihre Mutter »die schönste Frau der Welt« sei. Die Leute aus dem Nachbardorf entsenden Boten zu allen Bauernhöfen der Umgebung, sie sollen die schönsten Frauen zu der Lichtung
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