Tom Thorne 02 - Die Tränen des Mörders
Bahnhof King’s Cross verdankten sie ihre bisher einzige Spur – eine ungefähre Beschreibung. Eine einundvierzigjährige Prostituierte namens Margie Knight hatte sich gemeldet und ihnen erzählt, sie habe eine Frau gesehen, die Ruth Murray gewesen sein könnte und die auf dem York Way, einer Straße, die parallel zum Bahnhof verlief, mit einem Mann gesprochen habe. Sie konnte sich daran erinnern, weil sie einen Moment lang gedacht hatte, es handle sich um ein neues Mädchen, das sich auf ihrem Terrain breit mache.
Natürlich war es dunkel gewesen, aber aus den Schaufenstern auf der anderen Straßenseite sei etwas Licht gefallen. »Eigentlich ein ganz normales Gesicht. Aber der Typ war riesig, das kann ich Ihnen sagen. Hat sich über sie gebeugt und mit ihr geredet. Er war groß, nicht fett, nur einfach hoch gewachsen …« Sie behauptete, für ein Phantombild habe sie nicht genug sehen können. Der Polizei zu helfen war nicht gerade Margies Ding.
Thorne starrte auf das Plakat. Carol Garners Tod geronnen zu einem körnigen Foto und einer Telefonnummer. Im Lokalfernsehen hatten sie eine kurze Videoaufnahme von einer Überwachungskamera aus dem Bahnhof gezeigt, und obwohl sich eine Menge Leute meldeten, die das Opfer gesehen hatten, war niemandem ein Verfolger aufgefallen.
Selbstverständlich konnten sie sich nicht hundertprozentig sicher sein, dass ihr jemand gefolgt war. Die Sache mit den Bahnhöfen könnte sich noch immer als purer Zufall erweisen. Der Mörder könnte sich ebenso gut in der U-Bahn oder auf dem Heimweg von der U-Bahn-Station in Balham an ihre Fersen geheftet haben.
Dennoch war sich Thorne relativ sicher, dass es hier war, wo er Carol Garner zuerst gesehen, sie ausgewählt hatte.
Er hatte sich die Aufnahmen der Videoüberwachungskameras hundertmal angesehen, auf die Gesichter der Leute um sie herum geachtet, während sie und ihr Sohn fröhlich zur Rolltreppe schlenderten. Männer mit Aktentaschen, die mit weit ausholenden Schritten die Halle durchmaßen und in ihre Handys brüllten. Männer mit Rucksäcken, die gemächlich entlangschlenderten. Leute, die sich mit anderen trafen oder nach Hause eilten oder sich aus tausenderlei Gründen länger hier aufhielten. Manche wirkten gefährlich, und andere konnte man kaum übersehen. Wenn man sie lange genug musterte, konnte man alles Mögliche in ihnen erkennen.
Bis auf das, worauf es ankam.
Letzten Endes blieben seine Augen immer wieder bei Carol und Charlie hängen, wie sie Hand in Hand tief in ihr Gespräch versunken waren. Charlie lachte, hielt sein Buch fest umklammert und hatte seine Mütze tief in die Stirn gezogen.
Thorne fand, dass diese Bilder der Videoüberwachungskameras stets etwas so entsetzlich Ergreifendes hatten. Diese zweckmäßigen Clips von Menschen an öffentlichen Plätzen. Die Gestalten wirkten so real, so nah, als bräuchte man nur die Hand auszustrecken, um ihnen zu helfen, um zu verhindern, was – wie man wusste – geschehen würde. Dass man das nicht konnte, dass diese kaum verstrichene Vergangenheit unausweichlich zu einer schrecklichen Zukunft gerinnen würde, diente nur dazu, dieses Gefühl äußerster Hilflosigkeit noch zu steigern. Die unscharfe, rucklige Qualität des Films berührte ihn, wie es keinem Album mit Lieblingsfotos und keinem Privatvideo gelang. Die wacklige Aufnahme von Jamie Bulger, der durch das Einkaufszentrum seinem Tod entgegengeführt wird; oder die zehnjährige Damilola Taylor auf einem betonierten Fußweg, Minuten bevor sie in einem verpissten Treppenschacht in einer Siedlung in Peckham verblutete; oder eine Prinzessin – und Thorne war kein großer Fan –, die lächelnd die Hintertür eines Pariser Hotels aufstößt.
Bei diesen Bildern drehte sich ihm jedes Mal der Magen um.
Bei diesen Bildern der Toten, kurz bevor sie starben.
Im Augenblick schlenderten Carol und Charlie Garner durch eine belebte Bahnhofshalle; so entspannt und glücklich, wie es sich nur auf einem Film einfangen ließ, wenn das Objekt sich nicht bewusst war, dass es gefilmt wurde.
Sich nicht bewusst war, dass es beobachtet wurde. Von einer Kamera oder einem Mörder.
Was eine Zugfahrt von neunzig Minuten hätte sein sollen, dauerte beinahe zwei Stunden, und niemand wirkte sonderlich überrascht. Thorne und McEvoy blätterten in ihren Zeitungen und plauderten und lösten nebenbei sämtliche Probleme dieser Welt. Der Smalltalk war locker und angenehm. Die Zeit verging dabei rascher, und sie wussten beide instinktiv,
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