Tom Thorne 02 - Die Tränen des Mörders
die Augen nicht von Robert Enright, bis sich ihre Blicke trafen, dann fing er an zu sprechen. »Ich möchte den Mann finden, der Ihnen das angetan hat. Ihrer Tochter und Ihnen. Charlie hat ihn gesehen. Wir sind hier, um ihm die Gelegenheit zu geben, uns alles zu sagen, was er uns sagen will. Darum geht es.«
Sie erstarrten alle, als sie die Schritte auf der Treppe hörten. Thorne glaubte, Carol Garners Vater nicken gesehen zu haben, kurz bevor die Tür aufflog und ihr Sohn ins Zimmer rannte.
Der Junge gefror zur Salzsäule, als er die fremden Leute sah. Er blickte zu Boden und begann sich langsam zu dem Sofa zu bewegen, wo Mary ihm die Hand entgegenstreckte. Er war etwas klein für sein Alter. Seine eher langen Haare waren von einem unauffälligen Dunkelblond, seine Augen braun. Über einem langärmligen roten Pulli trug er eine Jeanslatzhose, und seine Hände waren über und über blau beschmiert; wahrscheinlich stammten die Spuren von einem blauen Filzstift.
»Freunde von uns wollten dich kennen lernen«, erklärte Mary beinah im Flüsterton. »Das ist …?« Fragend blickte sie hinüber zu McEvoy und Thorne.
»Sarah«, kam McEvoy ihr zu Hilfe und beugte sich lächelnd vor. Mit einem Blick auf Thorne fügte sie hinzu: »Und das ist Tom.«
Charlie sah hoch und musterte sie. Er rieb die Hand seiner Großmutter ein, zwei Sekunden an seiner Wange, bevor er sie sinken ließ und zu seinen Spielsachen hinübersauste, die auf dem Boden lagen. Er griff nach einer gelben Werkzeugkiste und leerte den Inhalt auf dem Teppich aus.
McEvoy verließ sich ganz auf ihr Gefühl. Das hier war etwas anderes als ein Gespräch mit jemandem, der vergewaltigt oder von seinem Ehemann verprügelt worden war. Ihr war nicht entgangen, mit welch zurückhaltendem, ja geradezu ehrerbietigem Ton Mary Enright zu dem Jungen gesprochen hatte, was sie instinktiv verkehrt fand. Zumindest war es verkehrt, wenn sie etwas in Erfahrung bringen wollten. Sie wusste, sie musste sein Vertrauen gewinnen.
»Freust du dich auf Weihnachten, Charlie?« Der Junge griff nach einem dicken, roten Plastikbolzen und begann, ihn durch das Loch in einer kleinen Werkbank zu schieben. »Ich bin sicher, das Christkind bringt dir viele schöne Sachen, wenn du ein braver Junge bist.« Mit einem Ausdruck tiefster Konzentration schob er den Bolzen weiter hinein. McEvoy stand von ihrem Sessel auf und kniete sich etwas entfernt von ihm auf den Teppich. »Ich finde, du bist ein braver Junge.« Sie ergriff den Plastikschraubenzieher und betrachtete ihn, während Charlie sie heimlich musterte. Sie gab sich die größte Mühe, jeden ernsten Unterton zu vermeiden. »Sehr brav wäre es, wenn du Tom und mir etwas mehr darüber erzählen könntest, wie deiner Mami wehgetan wurde.«
Charlie Garner sagte kein Wort.
»Du könntest, wenn du möchtest, deiner Oma etwas darüber erzählen. Möchtest du das?«
Mochte er nicht …
McEvoy spürte, wie sie schwitzte, und das lag nur zum Teil an der hohen Temperatur. Ihr begannen die Felle davonzuschwimmen. Sie konnte nur hilflos zusehen, wie der Junge unvermittelt aufstand, an ihr vorbeimarschierte und sich vor Thornes Füßen auf den Boden fallen ließ.
Thorne blickte achselzuckend hinunter zu Charlie. »Hallo …« Charlie zog einen kleinen, quietschenden Plastikhammer hervor und begann, damit heftig auf Thornes Schuh einzuhämmern. Es mag an seiner Anspannung gelegen haben oder einfach daran, dass diese Szene trotz allem anderen urkomisch war, jedenfalls brach Thorne in Lachen aus. Und dann lachte auch Charlie.
»Ich hämmer auf deinen Schuh …«
»Au … au … autsch!«, jammerte Thorne in gespieltem Schmerz, und als der Junge immer lauter lachte, hatte er das Gefühl, das könnte der geeignete Moment sein. »Erinnerst du dich an den Mann, der deiner Mami wehgetan hat?«
Das Lachen hörte zwar nicht gerade abrupt auf, aber die Antwort auf Thornes Frage war offensichtlich. Charlie drosch weiter auf Thornes Schuh ein, doch nun rein reflexartig. Das unregelmäßige Quietschen des Spielzeughammers war jetzt das einzige Geräusch im Raum. Mary und Robert Enright saßen stocksteif auf dem Sofa, und Sarah McEvoy hielt beinahe den Atem an aus Angst, die kleinste Bewegung könnte alles zunichte machen.
Thorne sprach langsam und ernsthaft. Er verfolgte nicht aus einem bestimmten Grund heraus einen anderen Ansatz als McEvoy. Das hatte nichts mit Strategie zu tun. Sein Instinkt sagte ihm, er solle dem Kind diese Frage stellen, einfach und
Weitere Kostenlose Bücher