Tor der Daemmerung
Lebensmittel oder irgendetwas anderes gesucht, das sich zu stehlen lohnte. Ich schob den Deckel von der Kiste und musterte ihren Inhalt.
Sie war zur Hälfte mit Büchern gefüllt, einige Taschenbücher wie das in meiner Hand, andere größer mit stabilem Einband. Manche Exemplare waren halb vermodert, andere angekokelt. Ich kannte sie alle, jede Seite, von vorne bis hinten. Sie stellten meinen wertvollsten und geheimsten Besitz dar. Wüssten die Vampire, dass ich einen solchen Schatz hortete, würden sie uns alle erschießen lassen und das Gebäude dem Erdboden gleichmachen. Aber ich fand, es war das Risiko wert. Nach ihrer Machtübernahme hatten die Vampire Bücher im Saum verboten und jede Schule oder Bibliothek systematisch ausgeräumt, und ich wusste auch ganz genau, warum. Weil zwischen den Deckeln jedes Buches Informationen über eine andere Welt zu finden waren – eine Welt vor dieser hier, in der die Menschen nicht in Angst vor Vampiren, Mauern und nächtlichen Schrecken lebten. Einer Welt, in der wir frei waren.
Sorgfältig legte ich das Taschenbuch zurück an seinen Platz, wobei mein Blick von einem anderen, ebenfalls ziemlich zerlesenen Buch angezogen wurde. Das Bild auf dem Deckel war verblasst und an einer Ecke breitete sich ein Stockfleck aus. Es war ein Bilderbuch für Kinder, größer als die anderen, mit grellbunten Tieren, die fröhlich über den Einband tanzten. Sanft strich ich mit dem Finger darüber und seufzte.
Mom.
Stick hatte sich aus seinem Versteck hervorgewagt und spähte mir über die Schulter. »Hat Rat irgendwas mitgenommen?«, fragte er leise.
»Nein«, murmelte ich und schob den Deckel wieder zu, um meine Schätze zu verstecken. »Aber du solltest besser auch in deinem Zimmer nachsehen. Und bring alles zurück, was du dir in letzter Zeit geborgt hast, nur vorsichtshalber.«
»Ich habe mir schon seit Monaten nichts mehr ausgeliehen«, protestierte Stick. Wieder klang er ängstlich und abwehrend, und automatisch biss ich mir auf die Lippe, um eine scharfe Antwort zu unterdrücken. Es war noch gar nicht so lange her, da hatte ich Stick oft dabei erwischt, wie er in seinem Zimmer hockte, sich gegen eine Wand kauerte und völlig versunken war in eines meiner Bücher – das war allerdings vor Rats Ankunft gewesen. Ich selbst hatte ihm das Lesen beigebracht. Lange, quälende Stunden hatten wir zusammen auf meiner Matratze gesessen und waren die Wörter, Buchstaben und Laute durchgegangen. Es hatte eine Weile gedauert, bis Stick es begriff, doch sobald er lesen konnte, wurde es zu seinem liebsten Fluchtmittel, denn so konnte er alles um sich herum vergessen.
Aber nachdem Patrick ihm erzählt hatte, was Vampire mit Saumbewohnern anstellten, die Bücher lasen, rührte er sie nicht mehr an. Die ganze Arbeit, die ganze Zeit völlig verschwendet. Es machte mich wütend, dass Stick sich bloß aus Angst vor den Vampiren weigerte, etwas Neues zu lernen. Ich hatte auch Lucas angeboten, ihm das Lesen beizubringen, aber der hatte schlicht und einfach kein Interesse daran. Und bei Rat würde ich es bestimmt nicht versuchen.
Bin auch selber blöd, wenn ich glaube, ich könnte diesem Haufen irgendetwas Nützliches vermitteln.
Doch ich war nicht nur wegen Sticks Angst und Lucas’ Ignoranz so verärgert. Hauptsächlich wollte ich, dass sie etwas lernten und mehr aus sich machten, weil das eines der Dinge war, die uns die Vampire genommen hatten. Ihren Lakaien und Leibeigenen brachten sie das Lesen bei, doch den Rest der Bevölkerung wollten sie ganz bewusst im Dunklen lassen, blind und unwissend. Wir sollten hirnlose, duldsame Tiere sein. Wenn genügend Leute wüssten, wie das Leben … davor war, wie lange würde es dann wohl dauern, bis sie sich gegen die Blutsauger erhoben und sich alles zurückholten?
Doch über diesen Traum sprach ich nicht mehr, nicht einmal mit mir selbst. Ich konnte die Leute nicht dazu zwingen, etwas lernen zu wollen. Aber mich selbst würde das nicht davon abhalten, es zu versuchen.
Als ich aufstand und das Laken wieder über die Kiste warf, wich Stick hastig zurück. »Meinst du, er hat die andere Stelle auch gefunden?«, fragte er zögernd. »Vielleicht solltest du sie besser überprüfen.«
Resigniert musterte ich ihn. »Hast du Hunger? Willst du das damit sagen?«
Stick zuckte mit den Schultern, warf mir aber einen hoffnungsvollen Blick zu. »Du nicht?«
Ich verdrehte nur die Augen und ließ mich vor meiner Matratze erneut auf die Knie fallen. Nachdem ich meine
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