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Tor der Daemmerung

Tor der Daemmerung

Titel: Tor der Daemmerung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julie Kagawa
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    Sie hängten die Unregistrierten in der alten Speicherstadt, es war eine öffentliche Hinrichtung, die sich jeder ansehen konnte.
    Ich stand ganz hinten, ein namenloses Gesicht in der Menge. Zu nah am Galgen, um mich wohlzufühlen, aber zugleich unfähig, den Blick abzuwenden. Diesmal gab es drei Verurteilte: zwei Jungen und ein Mädchen. Der Älteste war ungefähr in meinem Alter, ein dünner Siebzehnjähriger mit riesigen, angsterfüllten Augen und fettigen dunklen Haaren, die ihm bis auf die Schultern fielen. Die beiden anderen waren sogar noch jünger, schätzungsweise vierzehn und fünfzehn. Sie mussten Geschwister sein, denn ihre strähnigen Haare wiesen genau denselben Blondton auf. Ich kannte sie nicht; keiner von ihnen gehörte zu meinen Leuten. Aber sie sahen aus wie alle Unregistrierten: dünn und abgerissen, mit dem wilden Blick gefangener Tiere. Ich spürte ihre Verzweiflung so deutlich, dass ich schützend die Arme vor der Brust verschränkte. Es war vorbei. Die Falle war zugeschnappt, die Jäger hatten sie erwischt und es gab keinen Ort mehr, an den sie sich flüchten konnten.
    Der Lakai stand arrogant und aufgeplustert am Rand der Plattform, so stolz als hätte er die drei eigenhändig gefangen. Immer wieder marschierte er hin und her, zeigte auf die Verurteilten und betete die Liste ihrer Verbrechen herunter. Seine hellen Augen funkelten triumphierend.
    »… Angriff auf einen Bürger der Inneren Stadt, Raub, Hausfriedensbruch und Widerstand gegen die Festnahme. Diese Kriminellen haben versucht, aus einem privaten Lagerhaus der Inneren Stadt Nahrungsmittel der Klasse eins zu stehlen. Dies stellt ein Verbrechen gegen euch dar und, was noch viel schwerwiegender ist, ein Verbrechen gegen unsere gütigen Meister.«
    Ich schnaubte abfällig. Hochtrabendes Gefasel und Rechtsverdreherei änderten nichts an der Tatsache, dass diese »Kriminellen« genau dasselbe taten wie alle Unregistrierten, die überleben wollten. Aus welchen Gründen auch immer – sei es Schicksal, Stolz oder Sturheit – trugen wir nicht registrierten Menschen kein Zeichen unserer vampirischen Meister auf der Haut, kein Brandmal, das verriet, wer man war, wo man lebte und zu wem man gehörte. Die Vampire behaupteten natürlich, ein solches Zeichen diene nur unserer Sicherheit, damit sie jeden Stadtbewohner im Auge behalten und sich einen Überblick darüber verschaffen konnten, wie viel Nahrung bereitgestellt werden musste. Alles zu unserem eigenen Wohl. Na klar doch! Nennt es, wie ihr wollt, es war lediglich eine weitere Strategie, um ihr menschliches Vieh zu versklaven. Genauso gut könnte jeder von uns ein Hundehalsband tragen.
    Ein Unregistrierter zu sein hatte einige Vorteile: Offiziell existierte man nicht, man tauchte in keiner Akte auf, war ein Geist in ihrem System. Denn wessen Name nicht auf den Listen erschien, der musste auch nicht zum monatlichen Aderlass erscheinen, der musste sich nicht von menschlichen Lakaien in gestärkten weißen Laborkitteln eine Kanüle in den Arm jagen und sein Blut in Plastikbeutel pumpen lassen, die dann in Kühlschränken verstaut und zu den Meistern geschafft wurden. Wer den Aderlass ein paar Mal versäumte, bekam Besuch von den Wachen, die dann das überfällige Blut einforderten, auch wenn der Spender anschließend als leere Hülle zurückblieb. Die Vampire bekamen ihr Blut immer, so oder so.
    Als Unregistrierter schlüpfte man durch die Maschen, die Blutsauger hatten keine Möglichkeit, einen an die Leine zu legen. Und da dies genau genommen kein Verbrechen darstellte, hätte man annehmen müssen, dass sich fast jeder der Registrierung verweigern würde. Aber unglücklicherweise forderte diese Freiheit einen hohen Preis: Registrierte Menschen bekamen Essensmarken, Unregistrierte nicht. Und die Tatsache, dass die Vampire über sämtliche Lebensmittel der Stadt geboten, machte es so verdammt schwierig, genug zu essen zu finden.
    Deshalb taten wir das, was jeder in unserer Situation getan hätte. Wir bettelten. Wir stahlen. Wir rissen uns alles, was wir an Essbarem finden konnten, unter den Nagel – wir taten alles, um zu überleben. Draußen im Saum, dem äußersten Randbezirk der Vampirmetropole, war das Essen selbst dann knapp, wenn man kein Unregistrierter war. Die Lkws mit den Nahrungslieferungen kamen zweimal im Monat, immer schwer bewacht. Ich hatte schon gesehen, wie registrierte Bürger allein deswegen verprügelt wurden, weil sie nicht korrekt in der Warteschlange standen. Ohne

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