Tortenschlacht
daneben ein Gasherd und ein Kühlschrank des VEB DKK Scharfenstein. Er ist mit blassbraunem Holzfurnier beklebt, genauso wie die Anrichte vor dem Fenster. Wir hocken in der Küche des Selchower Abschnittsbevollmächtigten an einem Tisch mit einem Wachstuch, das Delfter Fliesen imitiert. Der Abschnittsbevollmächtigte, kurz ABV genannt und so was wie ein Dorfpolizist, kommt mit Wolldecken herein, die wir dankend annehmen. Noch immer sind wir klatschnass, um unsere Füße herum haben sich braune Wasserlachen gebildet.
Gegenüber hat ein gewaltiger Mann Platz genommen. Ein Zweimeterhüne von circa sechzig Jahren in einem regenfeuchten Anorak und zu kurzen Hosen. Er hat sich uns mit leichtem thüringischem Dialekt als »Oberleutnant, äh, verzeihen Sie, ich komme mit den neuen Dienstgraden nicht zurecht, Oberkommissar Jochen Friedrichs« vorgestellt. Er sieht sehr müde aus und befragt uns seit zwanzig Minuten.
»Dark, sagen Sie? Und der Nachname?«
»Ich weiß es nicht«, antwortet Melanie. »Wir haben ihn immer nur alle Dark genannt!«
»Und der ist das Auto gefahren«, Friedrichs sieht Melanie mit ungewöhnlich blauen Augen an, »nicht Sie?«
»Ich habe keinen Führerschein.«
»Melanie ist erst sechzehn«, pflichte ich bei.
»Na ja, ich habe schon Vierzehnjährige am Steuer erwischt.« Friedrichs seufzt schwer. »Beziehungsweise tot vom Asphalt gekratzt.«
»Ich bin wirklich nicht gefahren«, versichert Melanie.
»Und wo ist dieser …« Friedrichs gähnt. »… Dark jetzt?«
»Abgehauen«, rege ich mich auf, »der hat das Mädchen einfach allein gelassen!«
»Aus gutem Grund. Der Wagen wurde als gestohlen gemeldet.«
Ich sehe Melanie entsetzt an.
»Davon weiß ich nichts«, beteuert die mit großen Augen. »Wir haben den schon ein paar Tage, das ist unser Bandtruck.«
»Jetzt nicht mehr.« Friedrichs streckt seinen gewaltigen Körper und erhebt sich. »Wo sind denn die anderen?« Er sieht Melanie an. »Ich meine Ihre Musikerkollegen.«
»Keine Ahnung!« Melanie zuckt mit den Schultern. »In Berlin, schätze ich. Die sind mit zwei anderen Autos vorgefahren.«
»Auch gestohlen?«
» NEIN! « Melanie starrt den Kripomann entrüstet an. »Ehrlich, ich hatte keinen Schimmer, dass die Karre geklaut ist.«
»Meine Tochter ist da vermutlich in etwas hineingeraten«, springe ich ihr bei, »von dem sie nichts wusste.«
»Genauso wenig wie Sie?« Friedrichs sieht mich prüfend an.
»Natürlich, ich, ich …« Für wen hält mich der Mann? »Ich bin Kriminalbeamter wie Sie. Und meine Tochter ist eigentlich ganz anständig, geht aufs Gymnasium mit durchweg guten Noten und …«
»… tobt sich in der Freizeit in unserer DDR aus«, beendet Friedrichs meinen Satz und schüttelt seufzend den Kopf. »Ist ja auch spannend, nicht wahr? So ein Land untergehen zu sehen. Da muss man sich dann nicht mehr an Gesetze halten, da kann man munter die Sau rauslassen!«
»Ist doch gar nicht wahr«, ruft Melanie. »Wir hatten einen Gig in Mahlow. Wir haben nur Musik gemacht.«
»Tatsächlich? Etwa in der alten Mahlower Sporthalle?« Friedrichs sieht Melanie vorwurfsvoll an. »Das Konzert, bei dem die halbe Einrichtung verwüstet wurde?«
»Die war doch vorher schon total runter«, verteidigt sich Melanie, »wir sind ‘ne Punkband, da wird Pogo geslammt – da geht’s schon mal ab auf dem Moshpit!«
Friedrichs versteht vermutlich kein Wort, also versuche ich zu vermitteln.
»Sie will damit sagen, dass Punk keine Kammermusik ist …«
»Ich weiß, was Punk ist«, unterbricht mich Friedrichs scharf, »und wenn das meine Göre wäre, dann würde ich ihr mal ordentlich die Ohren lang ziehen, damit sie wieder in die Spur kommt, wenn Sie verstehen, was ich meine.«
»Sie wollen sich mit mir über Kindererziehung unterhalten?«
Lauernd sehen wir uns an, der Ostkommissar und ich.
»Haben Sie überhaupt Kinder«, setze ich nach, denn es ist kein Geheimnis, dass es immer die Kinderlosen sind, die einem erzählen wollen, wie man die Kleinen zu erziehen hat.
»Fünf«, knurrt Friedrichs, »und sieben Enkel. Ich weiß also, was es heißt, wenn der Nachwuchs über die Stränge schlägt.« Er setzt sich direkt Melanie gegenüber und beugt sich eindringlich vor. »Das Leben ist kein Zuckerschlecken, Mädel. Und deshalb kann es nie schaden, rechtzeitig zu lernen, was es heißt, Verantwortung zu übernehmen.«
Melanie verzieht genervt das Gesicht, doch Friedrichs zwingt sie mit einer knappen Bewegung, ihn anzusehen.
»Vor
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