Milchbart (German Edition)
1
»Darf ich dich angrapschen?«, fragte Alexander, wie er es stets tat, wenn er in der Klinik mit Fanni zusammentraf.
Sie lächelte ihn freundlich, ja geradezu wohlwollend an, antwortete jedoch höflich und akzentuiert »Nein«. Dann eilte sie weiter den Flur hinunter, vorbei an Türen aus hellem Kiefernholz, an apricotfarbenen Wänden, an lindgrün gerahmten Aquarellen, die Landschaften in warmen Farben zeigten.
Selbst das stimmungsvollste Ambiente kann keine Wunder bewirken, dachte sie bedrückt, und ein vorwitziger Gedankensplitter fügte naseweis hinzu: Bisher hat die offenbar maßgeschneiderte Atmosphäre jedenfalls noch nicht einmal eine Fata Morgana hervorgerufen!
Fanni kam eine wehmütige Empfindung an, während sie den Nachklang auf sich wirken ließ. Die Gedankenstimme hatte sich also wieder gemeldet. Jene eigenständige, irritierende, aber auf seltsame Weise vertraute innere Stimme, die sie dann und wann heimsuchte, meistens im unpassendsten Moment.
Wie jedes Mal, wenn das geschah, glaubte Fanni auch jetzt wieder zu spüren, dass hinter diesem Stimmchen die einzig verbliebene intakte Schaltstelle verborgen lag – die letzte Brücke (ein schwankender, morscher, unzuverlässiger Steg vermutlich), die sie mit einem Zeitabschnitt verband, der ihr verloren gegangen war.
»Partielle Amnesie« lautete die Diagnose, die besagte, dass ein Teil von Fannis Leben aus ihrem Gedächtnis gelöscht war, und die letztendlich dazu geführt hatte, dass Fanni sich seit zwei Wochen in der Privatklinik von Professor Hornschuh befand.
»Der heftige Schlag auf den Kopf«, hatte der Neurologe in der Münchener Uniklinik erklärt, der die Diagnose stellte, »das Betäubungsmittel, das Ihnen verabreicht wurde, die vorausgegangene wochenlange Bedrohung, all das zusammen hat zu einer Reizüberflutung geführt, aufgrund derer sich Ihr Gehirn genötigt sah, gewisse Verdrahtungen aufzulösen. Diese Schutzmaßnahme hat eine Gedächtnislücke verursacht.«
»Lücke«, hatte Fanni gemurmelt, »was für eine Untertreibung. Der Hohlraum umfasst exakt sechs Jahre.« Laut hatte sie hinzugefügt: »Und wann wird all das Vergessene an seinen Platz zurückkehren?«
Neurologe Dr. Wein hatte sie bedauernd angesehen und sehr ernst geantwortet: »Erinnerungen lassen sich nicht einfach wiederherstellen. Es gibt kein Medikament, keine Therapie, die sie zurückbringen könnten. In manchen Fällen ist der Schaden sogar irreversibel. Die Erinnerungen, die Erfahrungen, die man im betroffenen Zeitraum gemacht hat, sind für immer dahin.« Er rieb sich mit den Fingerkuppen über die Stirn und fuhr müde fort: »Erzwingen lässt sich da gar nichts. Bei Dissoziationen sind sogar Elektroschocks völlig nutzlos.«
Über Dr. Weins letzten Satz war Fanni sehr erleichtert. Dem Wort »Elektroschock«, fand sie, haftete ein ganz übler Beigeschmack an. Weil sie aber wissen wollte, ob ihr Eindruck berechtigt war, hatte sie den Begriff bei Google eingegeben. Leni hatte ihr ein paar Tage zuvor ihren Laptop mitgebracht mit der Bemerkung: »Du musst schnell wieder lernen, damit umzugehen. Wie sollten wir denn sonst in Verbindung bleiben können, während ich in Südamerika bin?«
Fanni googelte also »Elektroschock« und erschrak. Offenbar hatte es Zeiten gegeben, zu denen alle möglichen psychischen Störungen – auch Amnesien – mit Elektroschocks behandelt worden waren. Erst in jüngster Vergangenheit schien man zu differenzieren.
»Aber selbst bei Psychosen, die statistisch gesehen darauf ansprechen«, hieß es in dem Artikel auf Fannis Bildschirm, »ist die Anwendung von Elektroschocks ein Lotteriespiel. Wenn man eine kaputte Uhr in die Ecke wirft«, schrieb der Verfasser, »kann es tatsächlich passieren, dass sie wieder funktioniert. Genauso verhält es sich, wenn man Elektroschocks durch ein Gehirn jagt.«
Fanni blieb vor einer Tür stehen, an der ein dezentes Schild mit der Aufschrift »Marita Bogner, Therapeutin« angebracht war. Unter dem Namen befand sich das Logo der Parkklinik, deren Leiter Professor Hornschuh aus Wien war: da Vincis Quadratur des Kreises. Fanni hob die Hand, um anzuklopfen, ließ sie jedoch unverrichteter Dinge wieder sinken.
Statt ihrer Therapeutin gegenüberzutreten, statt sich couragiert in eine neue Gesprächsrunde mit ihr zu stürzen (»Ein Wort«, hatte man Fanni erklärt, »eine Geste, ein Bild, eine noch so winzige Kleinigkeit kann die gesamte Erinnerung zurückbringen. Gespräche mit einem Therapeuten sind der
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