Totenfeuer
Sandaletten mit für ihre Verhältnisse schwindelerregend hohen Absätzen. Leonard mag hohe Absätze. Sie packt ihr Handy ein.
»Dein Lover wird sowieso nicht anrufen, der macht in Familie.«
»Ich habe Bereitschaftsdienst.« Das kommt davon, wenn man sich mit diesen Kerlen bekifft und dann Dinge sagt, die man besser für sich behalten hätte. Aber das Gras, das es ein Stockwerk höher zu rauchen gibt, ist wirklich erstklassig, und Jule ist im Grunde froh, Thomas und Fred als Nachbarn zu haben.
»Noch immer dieser Bulle?«, erkundigt sich Thomas, als sie in der Stadtbahn sitzen.
Jule nickt. Ihr Blick wandert zum Fenster, aber sie sieht nur eine junge Frau mit dunklen, kinnlangen Haaren, honigfarbenen Katzenaugen und einem zu roten Lippenstift.
»Dann wird es erst recht Zeit, dass du unter Leute kommst. Wer weiß, vielleicht wartet an der Bar schon dein Ritter auf dem weißen Pferd auf dich.«
»Ich wusste gar nicht, dass Pferde ins Brauhaus dürfen«, meint Jule und probiert ein Lächeln, das ihr aber kläglich entgleist.
»Scheiß auf den Ritter«, meint Thomas. »Ich finde, wir sollten endlich Sex haben.«
»Du meinst, aus therapeutischen Gründen?«
»Der Grund ist mir egal. Aber ich wette, danach schaust du den Kerl nie mehr an.«
Der Satz könnte auch von ihrem Kollegen Fernando Rodriguez stammen – vielleicht weniger unverblümt, denn hinter seiner Machofassade ist Fernando ein verklemmter Romantiker, der heimlich Bollywoodfilme guckt.
»Ich überleg es mir.«
»Das sagst du seit Monaten. Fred hat sich auch schon darüber beklagt.«
Nicht, dass Jule nicht auch schon daran gedacht hätte, in schwachen Momenten. Es gibt ja nichts, was dagegen spricht. Thomas ist nett und durchaus vorzeigbar, ebenso sein Mitbewohner Fred. Aber Leonard Uhde hat sich in ihr Innerstes gefressen wie ein Krebsgeschwür. Jule ist nicht naiv. Sie weiß, dass es nicht schmerzlos enden wird.
Sie verlassen die Bahn an der Station Marktkirche. Der Wind fegt über den Platz, er ist mild und seidenweich und führt einen verheißungsvollen Duft nach Frühling mit sich. Irgendetwas in Jule zieht sich zusammen, ihr Blick sucht Halt an der Fassade des gewaltigen Kirchenbaus. Sie weist Thomas auf die elegante Backsteingotik aus dem vierzehnten Jahrhundert hin, aber die Aufmerksamkeit ihres Begleiters gilt im Augenblick den Hinterteilen zweier Frauen in sehr kurzen Röcken, die vor ihnen den Kirchplatz überqueren. Die Absätze ihrer hohen Stiefel hacken auf das Pflaster ein, fast klingt es wie Pferdegetrappel. Seufzend über so viel Ignoranz stöckelt Jule neben Thomas her.
Das Brauhaus Ernst August liegt nur ein paar Meter um die Ecke, Jule kennt das Lokal hauptsächlich aus ihrer Zeit als Streifenpolizistin im Revier Mitte. Drinnen läuft ein alter Song von Nena . Jule bleibt wie angewurzelt vor dem Eingang stehen. »Das ist nicht dein Ernst, oder?«
»Das ist nur am Anfang so. Später wird die Musik besser, wirklich«, versichert Thomas.
»Ich meine das da!« Sie weist auf das Schild neben der Tür: Single-Oster-Party – Open End . »Vergiss es, ich geh da nicht rein!«
»Jetzt sei nicht so versnobt.«
»Ich bin nicht versnobt«, sagt Jule wütend. Oder doch? Erst kürzlich hat Fernando sie ein »verwöhntes Professorentöchterchen« genannt – sie hat vergessen, was der Anlass dafür war, sie weiß nur noch, dass sie mit »verzogenes Muttersöhnchen« gekontert hat und dass danach einen halben Tag Funkstille zwischen ihnen im Büro herrschte.
»Du bist doch Single, oder? Wo ist das Problem?«
Das Problem? Das Problem ist, dass der Besuch einer solchen Veranstaltung in Jules Augen einer Kapitulation gleichkommt.
»Geht doch mal weiter, andere wollen auch noch rein«, beschwert sich eine eunuchenhafte Männerstimme hinter ihnen. Jule macht dem Eiligen Platz und taxiert das Publikum. Viel solariumgebräunte nackte Haut, etliche Tattoos, breite Gürtel, billiger Schmuck, ein Muschelkettchen, das eine haarige Brust ziert. Die Stiefelmädchen sind auch schon da und unterhalten sich mit zwei Typen mit rasierten Köpfen und Balkenbrillen. Jule hat genug gesehen. Sie wird jetzt auf der Stelle nach Hause fahren und sich bei einer Flasche Wein Stirb langsam ansehen. »Eins ist gut: Seit es Ed Hardy gibt, erkennt man die Idioten wenigstens sofort«, meint sie zu Thomas und wendet sich zum Gehen.
Thomas legt ihr die Hand auf die Schulter. »Komm schon, du musst ja keinen von denen heiraten. Aber man kann hier wunderbar
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