Totenfrau
Man sieht alles von oben. Das Meer, das Segelboot, ihre Haut. Eine nackte Frau an Deck, die Sonne scheint, alles ist gut. Sie liegt einfach nur da, schaut nach oben, ihre Augen sind offen, nur sie und der Himmel, die Wolken. Es ist der schönste Platz auf der Welt, das Boot, das ihre Eltern vor zwanzig Jahren gekauft haben, ein Prachtstück, eine Perle, die im Hafen von Triest ihre Heimat hat. Segeln, Leben auf dem Wasser, unter freiem Himmel, dort, wo sonst keiner ist. Nur Wasser weit und breit, Musik in ihren Ohren, und der Schweiß, der sich in ihrem Bauchnabel sammelt. Sonst nichts.
Von Triest zu den Kornaten, seit drei Tagen sind sie unterwegs, sie haben keine Eile, es gibt nichts zu tun. Urlaub mit ihren Eltern, so viele Jahre schon. Bald siebzig sind sie, wettergegerbt, leidenschaftliche Segler beide. Immer schon sind sie auf Booten unterwegs. Schon seit sie ein Kind war. In Badehose und Bikini, niemals nackt.
Vor zwei Stunden hat sie sich ausgezogen, sie hat sich hingelegt, ohne sich einzucremen. Sie will, dass die Sonne sie verbrennt, dass ihre Haut schreit, wenn sie gefunden wird. Nackt will sie sein. Endlich nackt. Niemand mehr, der es ihr verbietet. Kein Vater. Keine Mutter. Allein auf dem Boot, ihre Brüste, die Hüften, die Beine, die Arme. Dieses Lächeln auf ihren Lippen und wie sie sich leicht zur Musik bewegt. Nirgendwo sonst möchte sie jetzt sein. Noch drei Stunden wird sie liegen bleiben, sich strecken, sich räkeln, den Sommer in sich aufsaugen. Drei Stunden lang, oder vier. Bis die beiden endlich untergehen. Bis sie aufhören zu schreien. Bis sie aufhören, Wasser nach oben zu spritzen. Bis sie endlich still sind. Für immer.
Es ist Mittag vor Dugi Otok. Sie rührt sich nicht. Sie ist eingeschlafen, wird sie sagen, sie hat nichts gehört, die Musik war zu laut, die Sonne hat sie müde gemacht. Sie wird auf alle Fragen eingehen, sie wird ihnen Rede und Antwort stehen, und sie wird weinen. Sie wird alles tun, was notwendig ist, alles. Später, nicht jetzt. Jetzt ist da nur der Himmel über ihr, sie malt ihn an mit ihren Fingern, sie zieht Kreise, schreibt in das Blau. Sie malt sich ihre Zukunft aus, sie stellt es sich vor, ihr neues Leben allein. Das Institut, das jetzt ihr gehört. Sie wird alles umstellen, modernisieren, sie wird das Unternehmen wieder auf Erfolgskurs bringen. Sie wird alles steuern. Sie selbst, nicht Hagen. Sie wird das Boot zurück nach Triest bringen und neu anfangen.
Überall ist Schweiß. Wie sie es genießt, nackt zu sein. Eine erwachsene Frau, die sich von ihren Eltern nicht mehr sagen lässt, was sie tun und was sie lassen soll. Du wirst dich nicht ausziehen, Brünhilde. Nicht auf unserem Boot. Solange wir leben, gelten unsere Regeln, Brünhilde. Jetzt nicht mehr. Es gibt keine Regeln mehr, nur noch sie selbst entscheidet, sie allein. Keine Befehle mehr, keine Verbote. Sie hat sich ausgezogen, sie liegt an Deck und streckt ihren Körper in den Wind. Alles, was sie ist, weht wie eine Fahne, sie blüht auf in der Sonne, sie ist glücklich. Mit jeder Minute, in der sie allein ist, mehr.
Brünhilde Blum. Vierundzwanzig Jahre alt. Tochter von Hagen und Herta Blum. Adoptiert. Sie haben sie aus dem Kinderheim geholt, als sie drei Jahre alt war, sie haben sie aufgezogen wie ein Haustier, sie wurde herangezüchtet zur Nachfolgerin, sie war Hagens letzte Hoffnung, der Familienbetrieb sollte weiterbestehen. Um jeden Preis. Auch wenn es nur ein Mädchen war, das sie adoptieren konnten. Ein Mädchen oder gar kein Kind, hieß es. Die Wartelisten waren lang und Hagens Verzweiflung groß. So groß, dass er sich hinreißen ließ, dass er es sich nach langem Überlegen vorstellen konnte, seinen Betrieb in die Hände einer Frau zu legen, irgendwann. Sie sollte weiterführen, was ihm heilig war, sie sollte erhalten, was er geschaffen hatte, sie sollte für Hagen zum Mann werden. Sie tat alles, was er verlangte, alles, was der Beruf notwendig machte. Das Bestattungsunternehmen Blum war sein Ein und Alles, es war ihm wichtiger als alles andere sonst.
Ein Traditionsbetrieb, ihr Gefängnis, ihr Kinderzimmer. Kurz nach dem Krieg gegründet, zu einer Zeit, als das Sterben zum Geschäft wurde. Was früher die Nachbarn erledigt hatten, wurde 1949 von den Blums übernommen. Die Nachbarn, die geholfen hatten, wenn jemand gestorben war, die sich um die Leichenwäsche gekümmert hatten, um das Anziehen und Aufbahren, die Bestatter lösten sie ab. Was lange Zeit selbstverständlich war, wurde
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