Schwindelfreie Luegen
»Sylvie, schließen Sie bitte gleich den Laden ab, ich muss meinen Zug nach Antwerpen bekommen. Heute haben sich keine weiteren Kunden angemeldet. Wir sehen uns am Montag. Ein schönes Wochenende.«
»Gute Reise, Herr Kovac, und Ihnen auch ein schönes Wochenende in Antwerpen«, rufe ich meinem Chef nach und höre das Sicherheitsschloss der Hintertür einrasten. Es piept drei Mal, der Code ist aktiviert.
Ich schaue auf meine Uhr: zwanzig Uhr, Freitagabend – Wochenende. Morgen bleibt das Juweliergeschäft geschlossen, weil der Geschäftsführer in Antwerpen ist, um Diamanten einzukaufen. Kunden müssen sich ohnehin vorher anmelden, um beraten zu werden. Wir sind keines dieser Geschäfte mit festen Ladenöffnungszeiten. Die Kundschaft ist so exklusiv wie unsere Waren und kommt meistens in Limousinen mit Bodyguards vorgefahren.
Ich schließe die Ladentür ab, die ohnehin durch einen Code geschützt wird. Dieses Juweliergeschäft gleicht einer Festung, was auch verständlich ist, da wir Schmuckstücke und Rohdiamanten im Wert von mehreren Millionen Euro im Tresor verwahren.
Schnell räume ich noch neue Ware in die Vitrine, als es an der Hintertür klopft. Ich lasse die elektronischen Fenstergitter herunterfahren und mache mich auf ins Hinterzimmer. Schnell schaue ich auf den Monitor und sehe, dass Herr Kovac davorsteht. Vermutlich hat er etwas vergessen. Vorschriftsmäßig deaktiviere ich die Alarmanlage und öffne die Tür. Im selben Moment wird sie aufgestoßen, ich werde dabei mit Wucht gegen die Wand geschleudert. Benommen rutsche ich daran herunter. Meine Sicht ist unscharf und mein Kopf dröhnt von dem Aufprall. Das Nächste, was ich klar sehe, ist ein Foto von Herrn Kovac, das zu Boden segelt, und eine Pistole, die mir von einem Mann unter die Nase gehalten wird, der sein Gesicht mit Mütze und Schal vermummt hat. Er hilft mir wieder auf die Beine. Sein Griff unter meinen Arm ist nicht roh und grob, sondern vorsichtig, fast schon hilfsbereit, als würde es ihm leidtun, dass er mich umgehauen hat.
Er spricht Deutsch mit einem starken russischen Akzent. Oh Gott, die Russenmafia , geht es mir durch den Kopf. Viel habe ich in den Medien darüber gehört. Die sind nicht zimperlich, er wird mich töten! Ich habe große Angst, beginne zu schwitzen und meine Hände werden feucht.
»Bitte, öffnen Sie die Tür zum Tresor.«
In meiner Panik vergesse ich die Zahlenkombination des Schlosses, das den raumgroßen Safe schützt. Der Mann drängt mich vorwärts. Er ist völlig souverän, als hätte er Routine, und er hält seine Pistole ruhig auf mich gerichtet, fuchtelt nicht damit herum. Ich kann nicht fassen, dass mir solche Feinheiten in dieser Lage auffallen. Die ganze Situation hat etwas Surreales, als würde ich sie zu Hause am Fernseher beobachten.
»Ich ... ich habe die Kombination vergessen«, stottere ich hilflos.
»Sie lügen. Ich weiß, dass Sie sie kennen.«
»Ich habe ja auch nicht gesagt, dass ich sie nicht kenne, ich habe sie nur vergessen, weil Sie mir dieses Ding da unter die Nase halten!«
Für einen Moment sehe ich Überraschung in dem Blick des Mannes aufleuchten. »Sie fangen in dieser Situation doch nicht etwa an, mit mir zu streiten?«, fragt er erstaunt.
Wenn es nicht so ernst wäre, würde ich jetzt lachen. Seine Stimme ist beherrscht, sehr angenehm, ich mag seine Stimmfarbe.
»Beruhigen Sie sich. Ich werde Ihnen nichts tun. Hören Sie auf zu zittern und konzentrieren Sie sich.«
»Ich habe Angst vor dem Tod«, flüstere ich verlegen.
»Nicht den Tod sollte man fürchten, sondern dass man nie beginnen wird zu leben. Wie ist Ihr Name?«, fragt er.
Er steht mir sehr nah gegenüber, doch ich sehe kaum etwas von seinem Gesicht. Nur seine Augen. Dunkelbraun . Und einige grau melierte Haarspitzen lugen unter seiner Mütze hervor. Oh mein Gott, er wird mich töten, damit ich ihn später nicht identifiziere , denke ich panisch.
»Sagen Sie mir Ihren Namen.« Er streicht mir mit dem Zeigefinger eine Haarsträhne aus der Stirn, die sich dorthin verirrt hat. Es fühlt sich vertraut an und meine flatternden Nerven beruhigen sich ein wenig, obwohl ich diesem Mann noch nie begegnet bin und mir vor Angst in die Hose machen sollte.
»Sylvie Komarow« , antworte ich zögerlich.
»Sind Sie Russin?«
Ich schüttele den Kopf. »Nein, mein Großvater war es«, flüstere ich ... und werde schweißgebadet wach.
»Oh mein Gott«, atme ich schwer. Meine Bettwäsche ist vollkommen nass
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