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Totenfrau

Totenfrau

Titel: Totenfrau Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bernhard Aichner
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nunmehr zum Tabu. Tote zu berühren, sich von ihnen zu verabschieden, bevor sie in den Kisten verschwanden. Man war froh darüber, dass da nun jemand war, der alles so schnell wie möglich vom Tisch wischte, der den Leichnam abholte und unter die Erde brachte. Sauber und sachlich.
    Die Blums waren die Ersten in Innsbruck. Sie lebten gut von den Toten. Zuerst Hagens Vater, dann Hagen, von nun an Blum. Nur Blum, weil sie ihren Vornamen hasste, weil sie ihn nie ertragen konnte, keinen Tag lang. Brünhilde, lass die Toten in Ruhe. Brünhilde, hör auf, mit ihnen zu spielen. Brünhilde, hör auf, deine Finger in ihre Nasen zu stecken . Brünhilde. Ein Name, der nichts mit ihr zu tun hatte, den sie ihr gegeben hatten, weil Hagen deutscher war als erlaubt, weil er Wagner liebte, die Nibelungen, weil er wollte, dass seine Tochter in seine Welt passte. Brünhilde. Ein Name, den sie verbannt hat aus ihrem Leben. Nur mehr Blum. Nicht Brünhilde. Seit sie sechzehn war, seit sie aufgehört hat, Hagens kleiner Soldat zu sein, seit sie nicht mehr uneingeschränkt tat, was er verlangte, nicht mehr gehorchte. Nur Blum. Sie bestand darauf. Egal, ob er sie dafür bestrafte.
    Blum. Sie schaut den Himmel an. Sie dreht die Musik lauter, das Boot wiegt hin und her, weit und breit ist da niemand. Keiner, der hilft, keiner, der ihre Schreie hört. Niemand außer ihr. Nackt liegt sie da. Fast so wie die Toten im Versorgungsraum. Auf dem Tisch, kalt, ohne Leben seit sie denken kann. Sie half ihrem Vater, Freunde hatte sie nicht. Der Beruf schreckte die anderen Kinder ab. Dass ihr Vater mit Toten zu tun hatte und auch sie selbst, damit konnten sie nicht umgehen. Blum wurde zum Freak, man machte sich lustig über sie, man grenzte sie aus, spottete, verschwor sich gegen sie. Blum litt. Immer, eine Kindheit lang, eine Jugend. Sie sehnte sich nach einem Freund, einer Freundin, nach jemandem, mit dem sie ihr Leben teilen konnte, mit dem sie reden und lachen konnte. Aber da war niemand, sie blieb allein, sie hatte nichts außer ihren Eltern. Lieblosen Eltern. Eine stumme Mutter ohne Umarmungen und ein Vater, der sie zwang, Dinge zu tun, die ein Kind nicht tun sollte.
    Seit sie sieben war, hatte sie die Toten zu versorgen. Du darfst keine Zeit verlieren, Brünhilde, der frühe Vogel fängt den Wurm. Stell dich nicht so an, Brünhilde, sie werden dich schon nicht beißen. Sei kein Mädchen, beiß die Zähne zusammen und hör auf zu weinen. Wenn du jetzt nicht still bist und tust, was ich dir sage, kommst du in den Sarg. Hast du das verstanden, Brünhilde ? Da war keine Zeit zu verlieren, sie sollte lernen, damit umzugehen, er verlangte Unmögliches von ihr. Blum wusch den Toten die Haare, sie rasierte sie, sie wusch Blut von ihren Körpern und half beim Anziehen. Als sie zehn war, nähte sie zum ersten Mal einen Mund zu. Wenn sie sich weigerte, sperrte man sie in den Sarg. Unzählige Male, stundenlang im Dunkel, ein kleines Kind, ängstlich, allein. Blum. Hagen brach ihren Willen, jedes Mal von Neuem. Wie sie sich hineinlegen musste und er den Deckel verschraubte. Du lässt mir keine andere Wahl, Brünhilde. Wann wirst du endlich aufhören, dich zu wehren, ich habe keine andere Wahl, Brünhilde. Und Deckel zu. Ein Kind in einer Holzkiste. Sie blieb, solange sie konnte, so gerne wäre sie stärker gewesen, doch sie war nur ein Kind. Wehrlos ertrug sie es, niemand half ihr, keiner kümmerte sich um ihre Tränen, um ihr Flehen. Ich will das nicht tun. Ich kann nicht. Bitte nicht. Kurz bevor sie die Nadel durch das Kinn von unten in eine Mundhöhle stach. Der Faden durch totes Fleisch. Sie hat alles getan, aber es war zu wenig. Egal, wie sehr sie sich danach sehnte, nach Berührung, nach Blicken, die ihr sagten, dass ihre Eltern stolz auf sie waren. Blums Haut blieb allein. Ihr Sehnen blieb ungestillt, sie war nie genug, egal wie sehr sie sich bemühte. Sie war immer nur ein kleines Mädchen. Hilflos und ohnmächtig. Die kleine Blum. Bitte lass mich raus, Papa. Bitte sperr mich nicht ein. Nicht schon wieder in den Sarg, Papa. Bitte nicht.
    Es war Strafe und Qual. Was später Alltag wurde, war am Anfang die Hölle. Jeder Handgriff, jeder Blick, die kalte, tote Haut, die sie berührte. Tausendmal wischte sie Augen und Münder aus, reinigte Wunden, da waren Blut und Maden, entstellte Leichen, abgetrennte Körperteile, da war keine Kindheit, keine Torte mit Kerzen, waren keine Puppen, die sie anzog und auszog. Da waren nur Tote. Große Puppen, schwere Puppen,

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