Totenklage
Adoptionsvermittlungsstelle gewisse Vorbehalte, ein Kind einem Mann zu überlassen, der früher oder später im Gefängnis landen würde. Die Polizeiberichte, die sie anforderten, waren sicher alles andere als schmeichelhaft. Allerdings – wenn sich mein Vater etwas in den Kopf gesetzt hat, bekommt er es in der Regel auch. Koste es, was es wolle.
Ich höre Mam zu, aber eigentlich interessiere ich mich nicht für den Adoptionsvorgang. Ich interessiere mich für mich.
» Wie alt war ich da?«
Dad zuckt mit den Schultern. » Das weiß niemand so genau. Zwei Jahre, schätzten wir, vielleicht zweieinhalb. Das konnten wir nur durch die Körpergröße feststellen. Allerdings bist du nicht gerade eine Riesin, mein Schatz. Könnte durchaus sein, dass wir uns da verrechnet haben und du älter bist.«
» Habt ihr mich nicht gefragt?«
» Ach, Schatz, wir haben dich alles gefragt. Wo deine Eltern sind. Wo du gewohnt hast. Wie du heißt. Wie alt du bist. Alles.«
» Und?«
» Nichts. Du hast kein Wort gesprochen. Du hast – wie lange, Kath? – fast achtzehn Monate nichts gesagt. Aber du hast alles verstanden. Du warst schon damals ziemlich clever. Wir haben dich immer und immer wieder untersuchen lassen, aber da kam nichts dabei heraus. Du warst völlig in Ordnung. Und irgendwann hast du angefangen zu sprechen. › Mam, kann ich bitte den Käse haben?‹, hast du gesagt. Stimmt doch, Kath?«
Mam bejaht und wiederholt den Satz. »› Mam, kann ich bitte den Käse haben?‹«
Ich wiederhole ihre Wiederholung im Geiste: Mam, kann ich bitte den Käse haben?
Irgendetwas in mir hat sich verändert. Das Bühnenbild ist jetzt umgebaut. Die alte Welt ist verschwunden. Ich bin in einer neuen Welt angekommen. Das ergibt alles keinen Sinn. Ich habe eine Million Fragen. Wer ich war, wo ich herkam, wieso ich in Dads Auto saß, warum ich nicht sprechen konnte oder wollte. Dass mir zwei oder drei Jahre fehlen. Was in dieser Zeit wohl vorgefallen ist, das mir später so viel Kummer bereitet hat.
Aber das alles ist nicht wichtig. Nicht in diesem Augenblick.
Dad nimmt die restlichen Sachen aus der Tüte. Das rosa Kleid mit den kleinen weißen Schleifen. Den Teddybär. Eine Haarspange. Polierte schwarze Schühchen, in denen weiße Kniestrümpfe stecken. Er schiebt mir alles zu.
Meine Vergangenheit. Meine geheimnisvolle Vergangenheit. Dies sind die einzigen Hinweise darauf.
Als ich meinen Kopf in dem Kleid vergrabe, um daran zu riechen, weiß ich, dass auch diese Dinge nicht wichtig sind. Wichtig ist nur, was in mir passiert. Und da hat sich alles komplett verflüssigt. Eine uralte Schranke ist überwunden. Verschwunden.
Ich fühle mich seltsam. Und dann geschieht etwas Seltsames.
Ich hebe den Kopf aus dem Kleid. Ich lege die Hände aufs Gesicht. Als ich sie wieder wegnehme, sind sie feucht. Hier geschieht etwas sehr Seltsames. Ein Gefühl, das ich nicht wiedererkenne. Laufe ich aus?
Dann fällt es mir ein. Ich weiß, was hier passiert.
Es sind Tränen. Ich weine.
Ich hätte gedacht, dass es wehtut. Stattdessen ist es wie die reinste Form der Empfindung, die man sich nur vorstellen kann. In diesem Gefühl ist alles vereint: Glück. Trauer. Erleichterung. Schmerz. Liebe. Eine Mischung, die kein Psychiater je gefühlt hat. Die wundervollste Gefühlsmischung der Welt.
Wieder und wieder lege ich meine Hände auf mein Gesicht. Die Tränen kullern meine Wangen hinunter, fallen von meinem Kinn, kitzeln in meiner Nase, rinnen von meinen Händen.
Es sind Tränen. Ich weine. Ich bin Fiona Griffiths, vollwertige Bewohnerin des Planeten der normalen Menschen.
Das Cotard-Syndrom
Das Cotard-Syndrom ist eine seltene, aber medizinisch anerkannte Krankheit. Benannt ist sie nach Jules Cotard, einem Arzt, der im 19. Jahrhundert in Frankreich praktizierte. Seine Bezeichnung le délire de négation ist immer noch eine viel prägnantere und genauere Beschreibung als die heute gebräuchlichen Ausdrücke.
Das Cotard-Syndrom ist eine sehr ernste Krankheit. Die Betroffenen leiden hauptsächlich unter Wahnvorstellungen und Depressionen. Die moderne Psychiatrie würde dieses Syndrom wohl nicht als eigenständige Krankheit ansehen, sondern als extreme Ausprägung einer Depersonalisierung einstufen – wenn nicht als die extremste Form überhaupt. Manche Patienten berichten, dass sie tatsächlich » sehen«, wie ihr Fleisch verwest und von Maden bevölkert wird. So gut wie jedem dokumentierten Fall liegt ein traumatisches Erlebnis in der frühen
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