Totenreise
Zu beiden Seiten breitete sich eine Wüstenlandschaft aus, bedeckt von Schatten und abgestorbenen Bäumen.
Eines der Räder des Karrens, der sie trug, stieß gegen einen Stein, und Michelle bekam einen heftigen Stoß, der sie vor Schmerz aufstöhnen ließ. Doch niemanden schien es zu kümmern.
Obwohl sie nicht sagen konnte, wie viel Zeit seit ihrer Entführung vergangen war, hatte sie die seltsame Ahnung, dass sie bereits nicht mehr in ihrer Welt war.
Die Trommel erklang weiter in ihrem monotonen Rhythmus. Das Gefolge zog ohne Pause über das Plateau. Irgendwann endete es, und Berge tauchten aus dem Dunkel auf, zeichneten sich ab vor einem ungewissen Himmel. Zwei gewaltige Felsmassive lenkten den Blick auf sich, und in großer Höhe machte Michelle eine Brücke aus, eine schmale Hängebrücke aus Seilen und Brettern, die über den Grund führte, auf dem sie und ihre Entführer dahinzogen. Sie fragte sich, wer wohl diese wacklige Verbindung über den Abgrund überqueren würde. Sie fragte sich, wer in dieser untröstlichen Einöde leben mochte, und einmal mehr fragte sie sich, wohin man sie brachte …
Plötzlich kam Bewegung in die Gruppe der Vermummten. Eine der Gestalten, die den Karren zogen, drehte sich zu ihr um, und sie sah, was sich unter der Kapuze verbarg. Die Person unter dem dunklen Habit hatte kein Gesicht. Michelle meinte, einen nackten Schädel gesehen zu haben.
17
ES WAR EIN strahlender Morgen. Gedankenverloren betrachtete Marguerite Betancourt die Gruft, ohne genau zu wissen, was sie hier, auf dem Père Lachaise, eigentlich wollte. Benannt nach dem Beichtvater des Königs Ludwig XIV., dem Jesuiten François d’Aix de La Chaise, beherbergte dieser Friedhof die letzten Ruhestätten so berühmter Leute wie Oscar Wilde, Jim Morrison oder Frédéric Chopin.
Dank des Gräberverzeichnisses hatten sie die Gruft der Familie Gautier schnell gefunden. Und dort stand Marguerite jetzt in Begleitung ihres Kollegen, des Gerichtsmediziners, und blickte skeptisch auf die Anlage.
Zu beiden Seiten des Eingangs, einer Metalltür, die von Rost und Moos überzogen war, ragten zwei Engelsstatuen auf, die ihre Gesichter mit den Händen bedeckten. Das Grabmal, das so etwas wie einen Tempel darstellen sollte, war ziemlich heruntergekommen. Es musste seit Jahrzehnten nicht mehr besucht worden sein, geschweige denn gepflegt, obwohl der Name Gautier noch immer auf einem Fries über dem Türsturz zu entziffern war.
Marguerite hantierte einen Moment am Türschloss und gleich darauf betraten sie das Innere der Totenstätte, die sie mit einer Staubwolke und Spinnweben empfing.
Der Gerichtsmediziner hatte noch immer diesen abwesenden Gesichtsausdruck, der ihn schon seit Tagen nicht mehr verließ. Jede Entdeckung hinsichtlich des Verbrechens schien sein ohnehin düsteres Gesicht noch mehr zu verdunkeln.
Sie entdeckten mehrere Gräber, die alle zum Gautierclan gehörten, und eine schwere Falltür im Boden, die sich keinen Millimeter bewegen ließ.
»Hier ist ja dieser Luc«, sagte Marguerite kurz darauf, als sie vor einer der Grabplatten stand. »Nantes, sechster März 1894. Paris, zwölfter Juni 1950. Hier ruht unser Mörder? Seine Familie muss wirklich Geld gehabt haben, ein hübsches Mausoleum. Doch wie ich sehe, haben sie die Gräueltaten, die er vor seinem Tod begangen hat, auf dem Grab nicht vermerkt …«
»Hättest du es getan, wenn er zu deiner Familie gehört hätte?«, wollte Marcel wissen. »Hättest du auf die Verbrechen hingewiesen?«
»Nein, natürlich nicht. Aber ich hätte ihm nicht einmal ein Grab gegeben, diesem …«
»Verstehe. Aber ein Stück Erde steht nun einmal jedem zu, ganz gleich, ob Schurke oder Held oder einfach nur Durchschnittsbürger …«
Beide schwiegen, während sie weiter auf das Grab starrten. Marguerite schien nicht sehr motiviert zu sein, ganz im Gegensatz zu dem Gerichtsmediziner, der fest daran glaubte, dass Luc Gautier der Schlüssel zu allem war.
Er hätte Marguerite gerne erzählt, dass der Fingerabdruck, den man gefunden hatte, zu dem ungewöhnlichen Verdacht passte, den er hegte. Doch er traute sich nicht. Er hielt es für besser, wenn sie ihre eigenen Schlüsse zog, anstatt sich mit ihr über eine Theorie zu streiten, die sein Geheimnis gefährden konnte. Es standen mehr als ein paar Leben auf dem Spiel, ein Umstand, den sie weder wissen konnte noch sollte. Deshalb würde Marcel so lange den Mund halten, wie die Umstände es ihm erlaubten.
»Lebt noch irgendjemand von
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