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Totentöchter - Die dritte Generation

Totentöchter - Die dritte Generation

Titel: Totentöchter - Die dritte Generation Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: cbt Verlag: Verlagsgruppe Random House GmbH
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Wänden hängen nichtssagende Gemälde – ein Sonnenuntergang und ein Bild von einem Picknick am Strand. Auf der Tapete treiben Stiele knospender Rosen in geraden Linien in die
Höhe – und erinnern mich an Gitterstäbe einer Gefängniszelle. Ich weiche meinem Spiegelbild auf dem Frisiertisch aus, denn ich fürchte den Verstand zu verlieren, wenn ich mich an diesem Ort sehe.
    Ich versuche, das Fenster zu öffnen, was sich jedoch als unmöglich erweist. Dann betrachte ich die Aussicht. Die Sonne will gerade in Gelb- und Pinktönen untergehen und im Garten stehen Myriaden von Blumen. Es gibt plätschernde Springbrunnen. Das Gras ist in Streifen von Grün und dunklerem Grün gemäht. Näher am Haus teilt eine Hecke einen Bereich mit einem unnatürlich blauen Schwimmbecken ab.
    Das ist, denke ich, das botanische Paradies, das meine Mutter im Sinn hatte, als sie die Lilien in unserem Garten gepflanzt hat. Ihre Lilien haben immer gesund und kräftig geblüht, sie gediehen trotz der Ödnis von Dreck und Staub. Doch nur zu ihren Lebzeiten blühten in unserer Nachbarschaft Blumen. Neben den Blumen meiner Mutter gibt es nur noch diese welkenden Nelken, die in den Läden in der Stadt angeboten werden – rosa und rot gefärbt zum Valentinstag –, und die roten Rosen, die in den Schaufenstern immer entweder etwas Gummiartiges oder total Vertrocknetes haben. Sie sind, wie die Menschheit, chemische Imitationen dessen, was sie eigentlich sein sollten.
    Der Junge, der mir das Mittagessen gebracht hat, erwähnte, dass eines der Mädchen im Garten spazieren geht, und ich frage mich, ob der Hauswalter wohl so gnädig ist, uns draußen frei herumlaufen zu lassen. Ich weiß ja nicht viel über die anderen hier, nur dass sie entweder jünger als fünfundzwanzig sind oder auf die siebzig zugehen
 – Letztere sind Erstgenerationer und eine Seltenheit. Mittlerweile hat die erste Generation genug ihrer Kinder vorzeitig sterben sehen und ist nicht bereit, mit noch einer weiteren Generation Experimente anzustellen. Sie schließen sich sogar den Protestmärschen an – gewalttätigen Krawallen, die nicht wiedergutzumachende Schäden anrichten.
    Mein Bruder. Er wird sofort gewusst haben, dass etwas nicht stimmt, als ich nicht von der Arbeit nach Hause gekommen bin. Und ich bin jetzt seit drei Tagen weg. Zweifellos wird er völlig außer sich sein. Er hat mich vor diesen verdächtigen grauen Lastwagen gewarnt, die zu allen Tages- und Nachtzeiten langsam durch die Straßen der Stadt rollen. Aber es war keiner dieser Lastwagen, der mich erwischt hat. Das hier konnte ich nicht kommen sehen.
    Es ist der Gedanke an meinen Bruder, allein in dem leeren Haus, der mich zwingt, damit aufzuhören, mich selbst zu bemitleiden. Es ist kontraproduktiv. Denk nach. Irgendwie muss es doch möglich sein, zu flüchten. Das Fenster lässt sich eindeutig nicht öffnen. Der Schrank führt nur zu weiteren Kleidungsstücken. Der Schacht, in den der Junge den schmutzigen Lappen geworfen hat, ist nicht mehr als zwanzig Zentimeter breit.
    Wenn ich die Gunst des Hauswalters gewinnen könnte, würde man mir vielleicht so weit vertrauen, dass man mich allein im Garten umherwandern ließe. Von meinem Fenster sieht es so aus, als ob der Garten endlos wäre. Aber irgendwo muss er ein Ende haben. Vielleicht finde ich ja einen Fluchtweg, wenn ich mich durch eine Hecke zwänge oder über einen Zaun klettere. Vielleicht werde
ich auch so eine öffentliche Braut, wie sie auf für das Fernsehen gefilmten Partys zur Schau gestellt werden. Im Fernsehen habe ich schon so viele Bräute wider Willen gesehen und mich immer gefragt, warum die Mädchen nicht weglaufen. Vielleicht zeigen die Kameras die Sicherheitsvorkehrungen nur nicht, die sie gefangen halten.
    Und schon mache ich mir Sorgen, dass ich nie die Gelegenheit bekommen könnte, auf einer dieser Partys zu erscheinen. Soweit ich weiß, dauert es Jahre, bis man sich das Vertrauen eines Hauswalters erworben hat. Und in vier Jahren, wenn ich zwanzig werde, bin ich tot.
    Ich drehe den Türknauf und zu meinem Erstaunen ist nicht abgeschlossen. Die Tür öffnet sich knarrend und der Flur liegt vor mir.
    Irgendwo tickt eine Uhr. Im Flur gibt es noch weitere Türen. Die meisten sind verschlossen und verriegelt. An meiner Tür ist auch ein Riegel, aber der ist zurückgeschoben.
    Langsam gehe den Gang entlang. Meine nackten Füße sind von Vorteil, denn auf diesem dicken grünen Teppich machen sie praktisch kein Geräusch. Ich gehe an

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