Traeume ernten
die später einmal studieren wollen, meistens, weil ihre Eltern das auch gemacht haben. Jetzt fahre ich Marijn nicht mehr zu den dunklen Wohnungen ihrer Grundschulfreunde, sondern auf Feste in erleuchteten Schwimmbädern, in eine Welt, in der sie sich genauso zu Hause fühlt.
»Gib mir mal einen plantoir , so einen Pflanzstock«, sagt sie zu Philippe, dem Winzer, dessen Felder nicht weit von uns entfernt liegen. Es ist der zweite Tag, an dem ich sie nicht in die Schule geschickt habe. Gestern haben wir für einen Winzer einen Weingarten ganz in der Nähe des Dorfes angelegt. Die Winzer helfen sich hier traditionell gegenseitig, um Kosten zu sparen. Und heute ist also Mas des Dames an der Reihe. Ich fühle mich geehrt, dass auch ich gefragt werde, denn nur diejenigen, die sich mögen, sind bereit, umsonst füreinander zu arbeiten. Von einem Anhänger wird gerade eine groÃe Rolle Eisendraht heruntergeholt, an dem in gleichmäÃigen Abständen Stücke farbigen Klebebands befestigt sind. Der Draht wird ausgerollt, sodass das Klebeband anzeigt, an welchen Stellen die Pflanzen stehen müssen.
»Komm, lass mich das mal machen«, sagt George und nimmt Marijn den plantoir aus der Hand. Er ist 72, aber schlägt den T-förmigen Pfahl immer noch mit einem kräftigen Schlag in den Boden, dreht ihn dann nach rechts und links, bis er bis zum Anschlag in der Erde steckt. Fertig, weiter zum nächsten.
Marijn und ich gehen zu dem Sack mit den Pflanzen, die nicht mehr als dünne Stöcke sind, abgeschnittene Wurzeln am einen Ende und eine schützende Schicht roten Wachs am anderen. Während wir am Eisendraht entlang nach oben gehen, lassen wir bei jedem Stück Klebeband eine Pflanze auf den Boden fallen. Die Männer graben die Löcher, setzen eine Pflanze hinein und gehen weiter zur nächsten.
» Merde , das ist nicht dasselbe wie in der plaine , auf dem flachen Land«, sagen die Männer, als sie wieder auf einen Stein stoÃen. Aber dann setzen sie ihren Rhythmus ohne weitere Kla gen fort, Weinstock für Weinstock für Weinstock, 4 000 Pflan zen auf dieser Parzelle von fast einem Hektar.
Am Ende des Tages sitzt Marijn entspannt zwischen Jean-François, George, Philippe und Benjamin. Wir haben alle gut gearbeitet, jetzt sind wir müde und betrachten unsere Arbeit oben vom Hügel aus. Marijn redet auch über die Weinfelder und das Wetter und erzählt genauso selbstverständlich, dass sie Medizin studieren will. Die Leute reagieren freundlich darauf, vielleicht sind wir anders und haben andere Ideale, aber die einen sind nicht besser als die anderen.
»Ich muss wieder ein Praktikum machen«, sagt Marijn. Im französischen Bildungssystem machen die Kinder von ihrem 14. Lebensjahr an jedes Jahr ein Betriebspraktikum. Nach einer Woche bei einem Kinderarzt und einem Neurochirurgen sucht Marijn jetzt auch wieder nach einem Platz bei einem Spezialisten. Ich muss nur kurz nachdenken: »Ich glaube, ich kenne da jemanden.«
Eine Woche später sitzen wir im Auto und suchen nach einer Adresse in dem Ort, in dem ich operiert worden bin. »Natürlich erinnere ich mich noch an Sie«, hatte der Arzt aus Montpellier auf meine zurückhaltende Mail geantwortet. Er schlägt vor, dass wir zu ihm nach Hause kommen, wenn er dort während seiner Arbeit für die beiden Kliniken eine Pause macht.
Es ist viel Verkehr auf den StraÃen und schon fast drei Uhr, als wir endlich in dem Vorort ankommen, in dem er wohnt. Wenn wir dem Navi glauben, muss sein Haus ganz in der Nähe sein, aber in dem Nieselregen sehe ich nur Absperrungen und Umleitungsschilder. Ich versuche, sie zu umgehen, stehe aber fünf Minuten später wieder im Stau. »Lass dein Auto einfach hier stehen«, sagt Marijn, »dann laufen wir das letzte Stück.«
Aber ich will nicht so schnell aufgeben. »Geh du schon mal vor, dann umfahre ich die Absperrung â es muss doch einen Parkplatz vor der Tür geben.« Ich folge den gelben Pfeilen, die mich lange in eine Richtung führen, wo ich nicht mehr abbiegen kann. Inzwischen bin ich wirklich weit weg und eine Viertelstunde zu spät. Ich rufe den Arzt an, bei dem Marijn inzwischen schon angelangt sein muss. Er versucht, mir zu erklären, wie ich â die zweite links, die dritte rechts und dann über einen Kreisverkehr â zu seinem Haus komme. Es ist ein Albtraum, aus dem ich erst eine weitere
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