012 - Freie Seelen
6. Juni 2063
Unwillkürlich nutzte er die Ecken und Schatten, welche die zerklüftete Straße bot. Unzählige Stände, Kioske, Laternen und Bäume schmückten das Bild der Einkaufszone. Immer wieder wurden die Häuserblocks durch weitläufige Parks unterbrochen.
Durch diesen neuartigen Aufbau hatte das Erlebnis Einkaufsbummel an Qualität gewonnen und sich auch in den Umsätzen des Einzelhandels bemerkbar gemacht, nachdem dieser durch den Onlinehandel immer mehr unter Druck geraten war.
Eigentlich befand er sich nicht in Gefahr, entdeckt zu werden. Nein, die vor ihm liegende Straße war voller Menschen, die geschäftig umherschwirrten, hier in einen Laden gingen oder dort eilig entlang hasteten.
Wie immer waren die Menschen in ihrer Hektik gefangen, niemand nahm sich die Zeit, seinen Mitmenschen näher zu betrachten, ihm eine besondere Aufmerksamkeit zukommen zu lassen.
Meist wurde er von den Passanten nicht einmal zur Kenntnis genommen. Er war nur Einer in einer schier endlosen Masse kunterbunter Gestalten. Alle Hautfarben und alle Rassen waren vertreten, das ehemalige deutsche Volk hatte einer bunten multikulturellen Truppe Platz gemacht, mit allen Problemen, aber auch allen Errungenschaften.
Ihm kam dieser Umstand entgegen, schließlich wollte er keinerlei Aufsehen erregen. Ihm war es nur Recht, wenn ihn später niemand identifizieren konnte, falls etwas schief ging. Aber er ging davon aus, dass das nicht passierte. Er war auf seine Aufgabe akribisch vorbereitet worden, kannte die Gegend mittlerweile wie seine Westentasche, obgleich er vorher noch nie hier gewesen war.
Er betrat den vor ihm liegenden Hauseingang, durchquerte die Halle und nahm den Aufzug. Achtunddreißig Stockwerke höher stieg er aus, ohne einer Menschenseele begegnet zu sein.
Das letzte Stockwerk zur Aussichtsplattform musste er zu Fuß gehen. Dann bot sich ihm ein eindrucksvoller Blick über die Stadt. Außer ihm befanden sich nur vereinzelte Personen hier.
Gewöhnliche Touristen, die mit sich und ihren Kameras beschäftigt waren, oder Bummler, die dem hektischen Treiben der Einkaufsstraße entfliehen wollten. Während die Meisten von ihnen recht weit von ihm entfernt waren, stellte sich ein älteres Paar direkt neben ihn. Er drängte die Stimmen in den Hintergrund und sah in die Ferne.
Das Kontrollzentrum von Flibo. Flibo, der Zusammenschluss der Konzerne Flick und Bosch, der im Laufe der Zeit weitere, für sich genommen schon riesige Konzerne geschluckt hatte.
Hella, Thyssen-Krupp, Henkel und Bayer waren nur einige davon. Die Firmenzentrale wuchs zu einem gigantischen Areal. Er schaute genau auf das Gelände des ehemaligen Düsseldorf hinunter, einem Teil des jetzigen Rheinstadt.
Einst die längste Theke der Welt, thronte von der Altstadt bis zum Rheinufer das Zentrum Flibos, des Technologiekonzerns. Flibo selbst dehnte sich vom ehemaligen Köln im Süden bis zum nördlichsten Punkt Oberhausens.
Eine riesige weitläufige Konzernstadt, die als grüne Oase Europas galt. Einst das dicht besiedeltste Gebiet, hatten die Deutschen aus ihren Fehlern gelernt und unzählige grüne Lungen erschaffen, die das Gebiet Flibos säumten und diese Gegend dafür weltweit berühmt gemacht hatten.
Doch die Firmenzentrale, das eigentliche Kontrollzentrum der Macht, befand sich genau vor ihm. Dort war nichts von dieser grünen Pracht zu sehen, dort fing eine Betonwüste an, in der jeder Quadratmeter zu Nutzfläche umgewandelt worden war.
Bis hierhin war es ein Kinderspiel gewesen. Gefälschte ID-Cards hatten ihm den Zutritt auf das Flibo-Gelände ermöglicht. Soweit wäre allerdings jeder halbwegs begabte Amateur gekommen. Bei einer solch riesigen Stadt gab es unzählige Schlupflöcher, durch die man unbemerkt eindringen konnte. Aber das Kontrollzentrum selbst war auf diese Weise nicht zu betreten.
Heute Nacht!
Dann würde er in das Kontrollzentrum einbrechen und in die Höhle des Löwen einsteigen. In das Büro von Volker Kramert, dem Sicherheitschef des Konzerns.
Er würde der Erste sein, dem dies gelang. Er, Uli John Roth, Agent aus Leidenschaft.
Er warf einen letzten Blick auf das Areal vor sich, sog die Luft ein, eine verwirrende Mischung aus Natur und Verschmutzung, dann trat er den Rückweg an. Bald wurde es ernst.
*
3. Oktober 2062
Mein Name ist Uli John Roth. Ich trage mein Haar lang, bis fast hinunter zu den Pobacken. Mein Gesicht ist bleich und ein wenig fahl. Die dunklen Augen liegen in tiefen Höhlen. Mir geht
Weitere Kostenlose Bücher