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Traeume von Fluessen und Meeren

Traeume von Fluessen und Meeren

Titel: Traeume von Fluessen und Meeren Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tim Parks
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voller Angst und Wut, und sie kam sich dumm vor. Aber sie hatte beschlossen, an ihm festzuhalten. Er steht unter einem Bann, und irgendwann wird dieser Bann aufgehoben. Oder sie selbst stand unter einem Bann.
    Plötzlich war John wieder im Zimmer. »Komm, wir gehen spazieren«, verkündete er unvermittelt. Er war bereits auf dem Weg nach draußen. »Lass uns rausgehen.«
    Sie schlüpfte in ihre Sandalen und rannte hinter ihm her die Treppe hinunter. Weiter entfernt von dem Wohnblock war dieStraße nicht beleuchtet. Die Betonbürgersteige waren rau und rissig. Elaine stolperte. »Wo willst du denn hin?«
    »Nirgends.«
    Es roch nach verbranntem Stoff und Öl. Es war immer noch heiß. Die Autos kamen in knirschenden, hektischen Schüben von einer entfernten Ampel. Nach ein paar Minuten gingen sie an einem Tier vorbei, das tot im Rinnstein lag. John hockte sich hin und stupste es an. Ein Hund.
    »Nicht anfassen, John.«
    »Es ist doch bloß tot.«
    »Guck mal, die Ameisen.« Die Insekten marschierten mit erhobenem Hinterleib in breiten Bahnen über das Pflaster. »Weiß der Himmel, was für Infektionen man sich da holen kann.«
    Er stand auf und ging weiter.
    »Weißt du, wo du hin willst?«
    Er gab keine Antwort.
    »Und wenn wir uns verlaufen?«
    Er zuckte die Achseln.
    Sie gingen an einer riesigen Plakatwand vorbei, unter der ein schäbiger Kiosk stand. Autos parkten auf dem Sand neben der Straße, und Männer, die aus Flaschen tranken, lehnten an einem Zaun. Ein, zwei Autorikschas verlangsamten ihre Fahrt neben ihnen und boten ihre Dienste an, aber John beachtete sie gar nicht. Dann schrie in einem Moment der Stille ein Pfau. Und noch mal. »O Gott!«, murmelte Elaine. Der Schrei kam von der anderen Seite einer niedrigen Mauer. John drehte sich nicht um. Er sagte kein Wort.
    Aber ganz allmählich fühlte Elaine sich trotz der schweißtreibenden Hitze wohler beim Spazierengehen. Sie hatte das Gefühl, dass sie beide endlich zusammen waren, auch ohne zu reden oder sich zu berühren. Immerhin bewegten sie sich zusammen, gingen in dieselbe Richtung, dieselbe Straße entlang. Sie beschloss, Vertrauen zu haben und zu laufen, einfach Vertrauen zu haben undzu laufen. Wenn er sie irgendwohin führte, dann übernahm er auch die Verantwortung, sie wieder zurück zu führen.
    Aber es war erstaunlich, wie lang hier die Straßen waren. Elaine hatte sich Indien anders vorgestellt. Die Straßen waren endlos, entmutigend gerade und von schäbigen Wohnblocks, Schrottplätzen, leeren Grundstücken mit schiefen Bäumen und Wäsche auf der Leine gesäumt. Die gelegentlichen Kreuzungen waren breit und dunkel, und sie sahen alle gleich aus. Dunkle Lieferwagen fuhren rumpelnd in kleinen Konvois vorbei. Es gab keine Schilder. Ein Bus stieß Rauchwolken aus. Zwei Jungen ließen sich johlend auf einer Seite heraushängen. Sie kamen an etwa einem Dutzend älterer Frauen vorbei, die auf dem trockenen Schlamm neben dem Bürgersteig beisammenhockten und aßen. Sie hatten eine Ziege an einen alten Betonblock gebunden. Eine der Frauen hob den Kopf und rief ihnen etwas zu, aber John ging einfach weiter.
    »Wenn wir uns ein Taxi nehmen, können wir in die Stadt fahren und irgendwo etwas trinken oder so«, sagte sie. »Ich sterbe vor Hunger.«
    Da blieb er endlich stehen; er schaute sie an. Schließlich sagte er: »Elaine, bitte.«
    Von da an war das Schweigen leichter zu ertragen.
    Sie wanderten durch die leeren Straßen von Süd-Delhi. Sie bogen weder nach rechts noch nach links ab, sie liefen einfach weiter, Elaine hatte keine Ahnung, in welche Richtung – weg von allem, so schien es ihr. Ein bleicher Mond stand am Himmel, aber die hässliche Landschaft schien ihren eigenen, kränklichen Schimmer zu besitzen. Sie fing an, die Telegrafenmasten zu zählen und die schiefen Bushaltestellenschilder an den Ecken zu winzigen Nebenstraßen. Der Gedanke, dass sie denselben Weg würden zurückgehen müssen, begann sie zu bedrücken. Er läuft bis zur Erschöpfung, dachte sie. Er läuft vor dem Reden davon, vor dem Leben.
    Die Straße führte schon seit mehreren Minuten bergauf, und jetzt merkten sie, dass sie auf einer Brücke waren. Das Pflaster hatte sich vom Land darunter entfernt. Auf der rechten Seite verlief ein dünnes Eisengeländer durch Betonpflöcke hindurch.
    »Wasser«, sagte John.
    Elaine schaute hinab. Zwischen hohen Uferböschungen erkannte sie vage etwas Gläsernes in der Dunkelheit. Ein feuchter Geruch lag in der Luft.
    »Ist das der

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