Traumfabrik Harvard
wird. Hochschulen dagegen unterscheiden sich schon in ihren Aufgaben und Funktionen erheblich
von Land zu Land – und damit selbstverständlich auch in ihren Produkten, Selbstbeschreibungen, Strukturen und Prozessen. Darin
spiegeln sich nicht nur externe Anforderungen – des Arbeitsmarktes, der Wirtschaft oder der Politik. Vielmehr sind Hochschulen
selber Ko-Produzenten moderner Gesellschaften, denn die Kompetenzen und Weltsichten, die sie vermitteln, umfassen nicht nur
technische Skripte und Fertigkeiten, sondern formen und legitimieren auch die
moral and political economy
der jeweiligen Gesellschaft (Ben-David 1977; Scott 1990; Meyer 2005; Frank/Gabler 2006). In den bemerkenswerten nationalen
Unterschieden, die wir zwischen Hochschulen und in ihren Betriebssystemen erkennen können, kommen daher nicht zuletzt von
diesen selbst mit-produzierte Weltbilder zum Ausdruck. Stärker als andere soziale Institutionen neigen Hochschulsysteme und
einzelne Hochschuleinrichtungen außerdem dazu, einen »Eigensinn« zu entfalten und ihren Aktivitäten eine jeweils besondere
»organizational saga« (Clark 1972) zu unterlegen, die sich nicht auf schlichte funktionale Anforderungen zurückführen lässt.
Daten und Kennzahlen, wie sie für internationale Vergleiche von Hochschulsystemen üblicherweise herangezogen werden, sind
blind gegenüber solchen Kontexten und Rückkoppelungen. Als Indikatoren sind sie gleichwohl wertvoll, wenn sie dazu anregen,
hinter die Kulissen zu schauen und nach den politischen, historischen, sozialen und kulturellen Gründen für die messbaren
Unterschiede zu fragen. Daher scheint es ratsam, Konturen und einige Grundmerkmale der Hochschulen in Amerika zunächst aus
der Vogelperspektive zu betrachten, bevor wir uns an die beschreibende Analyse des Systems und seiner institutionellen Besonderheiten
machen. Lässt sich schon von weitem erkennen, warum es international zum »Goldstandard« für Hochschulbildung werden konnte
und auf der ganzen Welt beneidet wird, wie amerikanische Hochschulforscher gern und stolz behaupten (Altbach 2001a; Ehrenberg
2002)? Was haben amerikanische Universitäten – von ihren scheinbar unerschöpflichen Ressourcen und größeren organisatorischen
Freiheiten einmal abgehesen – ihren europäischen Schwestern voraus, dass sie diese im Wettlauf um akademische Spitzenplätze
und internationale Attraktivität hinter sich gelassen haben und so unverblümt als »lame ducks« bezeichnen können? 6 Und warum hat sich die
American university
trotz ihrer vielen Anleihen bei Oxbridge und |25| Berlin zu einem völlig neuen, ganz eigenen Typ akademischer Institution entwickelt?
Unter Kennern der internationalen Hochschulentwicklung gilt es als ausgemacht, dass die USA das größte, heterogenste und am
stärksten vom Markt bestimmte Hochschulwesen auf der ganzen Welt besitzen. Seit den 1930er Jahren haben seine Matadore Diversität
und Dynamik als seine besonderen Markenzeichen bezeichnet. 7 Seine unordentliche Vielfalt, hört man allenthalben, zeuge nicht nur von Erfindungsreichtum und unternehmerischer Klugheit,
sondern auch von einem »true commitment« der amerikanischen Gesellschaft, jedem, der lernen wolle, die Gelegenheit dazu zu
bieten. Wenn die Wirtschaft und Gesellschaft der USA oft mit ähnlichen Begriffe charakterisiert werden, ist das kein Zufall.
Die Parallelen liegen auf der Hand. So verkündete Lee Shulman, Präsident der Carnegie Foundation, noch 2006 kurz und bündig,
der spezielle »genius of American education« – Neugier, Entdeckungsfreude und Risikobereitschaft – sei genau derselbe wie
der »genius of our economy« (Shulman 2006: B9).
Doch Vielfalt hat ihren Preis. Zwischen den einzelnen Hochschulen gibt es so riesige Unterschiede, dass es schwer fällt, Gemeinsamkeiten
zu entdecken – außer der, dass alle Studenten eine abgeschlossene Sekundarschulbildung besitzen und
jeder
Hochschullehrer mit »professor« angeredet wird. In Ländern wie Deutschland, in denen die Hochschulausbildung seit jeher staatlich
beaufsichtigt und gelenkt wurde, wirken solche Verhältnisse höchst verdächtig. Hat nicht der Staat für die Einhaltung akademischer
Mindeststandards auch außerhalb der staatlichen Hochschulen zu sorgen, eine Vergleichbarkeit von Studienabschlüssen zu gewährleisten
und deren Nennwert durch vorsorgende Niveaupflege abzusichern? Darf man das wertvolle Gut der Hochschulbildung dem ungezügelten
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