Traumreisende
Vollkommenheit nicht auszuleben. Wir können dem uns innewohnenden Potential von Tag zu Tag näher kommen, und entsprechend wird auch die Welt ein göttlicherer Ort werden. Am Ende werden wir Zeugen dessen sein, wie sich ein schöner goldener Kreis schließt.
Geoff saß auf der Pritsche in seiner Gefängniszelle und hielt Beas Brief und das Dokument, das sie mitgeschickt hatte, in der Hand. Er dachte an das ferne Land seiner Geburt. Zum ersten Mal seit Jahren dachte er an sein erstes Zuhause und seine ersten Erinnerungen an die Schafsfarm der Willetts. Er erinnerte sich an die Insekten auf der Farm, die Fliegen, die Grashüpfer und die Spinnen, an seine Lieblingsverstecke in der Scheune und auf einem Baum, wo er stundenlang ganz still dasitzen und die Vögel beobachten konnte, die auf den nahen Ästen landeten, als dächten sie, auch er sei ein Vogel. Von seinem Versteck im Baum aus konnte er die anderen unten arbeiten sehen und wusste, dass er unsichtbar war.
Das war so lange her, dass es ein anderes Leben zu sein schien. Er hatte vergessen, wie es war, ein ganzer Mensch zu sein. Jetzt sah er seine Jahre in Australien als die einzige Zeit, in der er sich in Harmonie und im Gleichgewicht mit der Welt um sich herum befunden hatte, mit allen Lebensformen und Wesen. An jenem Ort war er draußen im Freien gewesen, hatte gewusst, dass er dorthin gehörte, hatte dort denken und fühlen können, anstatt in einem Gebäude zu sein oder eingesperrt wie hier im Gefängnis, wo er zu denken aufgehört hatte.
Seit Jahren hatte er sich nicht mehr an seine Jugend erinnert und die Vorstellung aufgegeben, jemals wieder in Freiheit zu sein. Schon vor Jahren hatte er sich mit seinem eigenen Volk, den Aborigines, beschäftigt. Aber eigentlich mehr mit ihrer Kunst, der er dennoch nie irgendeinen Sinn abgewinnen konnte. Er erkannte, dass er zwar sein ganzes Leben unter Amerikanern verbracht hatte, dass aber immer eine Leere in ihm gewesen war, die sich danach gesehnt hatte, mit dem Geist seiner Ahnen in Verbindung zu treten.
Was er nicht wissen konnte, war, dass er beim Eintritt ins Gefängnisleben genau dasselbe getan hatte wie seine Mutter an jenem Tag, als ihr ihre Babys fortgenommen wurden. Sie hatte gesagt: »Was immer dem höchsten Wohl dient, sind meine Babys und ich zu erfahren bereit. Was geschehen ist, verstehe ich nicht, aber ich akzeptiere es in Traurigkeit.«
Er betrachtete Beas »Botschaft aus dem Ewigen«, die die zehn wichtigsten Dinge für das Leben eines Menschen umriss. Und er dachte über sein eigenes Leben nach. Er war kreativ gewesen. Er hatte durch sein Kunstprogramm anderen Häftlingen geholfen. Er hatte seinen Zorn überwunden und war emotional gereift. Er besaß Selbstdisziplin und unterhielt sich selbst. Er schätzte die Musik und genoss es, gelegentlich zu singen. Aber er musste noch Verantwortung übernehmen und jeden Schaden ausgleichen, den er womöglich verursacht hatte. Seine Energie gut zu verwalten war für ihn ein neuer Begriff, ebenso wie das Beobachten, ohne zu urteilen. Am Ende, hoffte er, würde die Weisheit kommen. Ja, dachte er, ich habe nur fünfzig Prozent erreicht. Aber ich kann die verlorene Zeit aufholen. Ich kann den Planeten Erde mit hundert Prozent verlassen. Die Frage ist jetzt, wo und wie ich diese Prinzipien erlernen und danach leben kann. Geoff wusste nicht, was er von dem Stammesrat zu erwarten hätte, falls er in das Land seiner Ahnen zurückkehren würde. Alles, was er wusste, während er da auf seiner Pritsche saß, die Papiere in der Hand hielt und seinen Zellengenossen schnarchen hörte, war, dass er jetzt die vielleicht wichtigste Entscheidung seines Lebens zu treffen hatte. Fast alle größeren Entscheidungen in der Vergangenheit waren von anderen getroffen worden - den Willetts, den Marshalls, dem Richter, den Wachmännern. Jetzt musste er selbst über sein Leben entscheiden, und das machte ihm angst.
Er las noch einmal die Seiten, die Bea ihm geschickt hatte. Sie hatte gesagt, auch sie sei in der weißen Welt verloren gewesen, bis sie die »Wahren Menschen« und deren Lebensweise kennen lernte. Leise, um den Mann auf der Pritsche über sich nicht zu wecken, begann Geoff das Lied nachzusprechen, das sie für ihn aufgeschrieben hatte: »Ewige Einheit, die in Stille für uns singt, die uns voneinander lernen lässt, leite meine Schritte mit Kraft und Weisheit...« Er spürte, wie sich etwas in ihm rührte, als erwache etwas, das lange geschlafen hatte.
Er griff unter
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