1418 - Grabgesang der Geistermönche
Wie immer hatte Toms Freundin Sylvia den Rucksack mit Proviant gut gefüllt. Sie kannte schließlich seinen Appetit. Zum Essen gehörte auch der Kaffee, der in der kleine Isolierkanne über Stunden hinweg warm gehalten wurde. Dazu gab es Brote und hin und wieder ein oder zwei hart gekochte Eier.
Tom wollte die beiden Klettverschlüsse an der Außenseite in die Höhe ziehen, als er mitten in der Bewegung stoppte.
Etwas war zu hören, etwas, das nicht in die normale Stille der Nacht hineinpasste. Der Polizist hörte es nur, aber er sah nichts, was den Laut hätte verursacht haben können.
Es war Gesang!
Weber stutzte und merkte gleichzeitig, dass ein leichter Schauer über seinen Rücken lief.
Gesang? Wieso? Und das mitten in der Nacht!
Die Sänger waren nicht zu sehen, und das wollte der Vertreter des Gesetzes ändern.
Er drehte sich um, weil er sich in dieser Situation unbedingt einen Rundblick verschaffen wollte. Er hatte noch nicht herausgefunden, aus welcher Richtung der Gesang kam.
Es war wie immer um diese Zeit. Die Stadt am Main schlief. Odenwald und Spessart trafen hier zusammen. Die Grenze bildete der Fluss, der ruhig durch sein Bett strömte. Ein paar Lichter hinterließen auf der Wasseroberfläche blitzende Reflexe. Kein Schiff zog mehr seine Bahn, und die Anlegestellen lagen im Dunkeln, ebenso wie die Kioske und Fahrkartenhäuschen.
Thomas Weber blieb so stehen, dass er auf den Fluss schauen konnte. Ein sanfter, warmer Juniwind wehte über das Wasser hinweg und spielte mit den braunen Haaren des Polizisten. Die Mütze lag im Wagen. Es war ihm einfach zu warm, wenn er sie immer aufbehielt.
Seine Mahlzeit hatte er vergessen. Erst einmal wollte er wissen, woher der ungewöhnliche Gesang kam. Zuerst war er davon ausgegangen, dass jemand ein Radio laufen ließ. Doch diesen Gedanken hatte er rasch wieder verworfen. Wenn jemand um diese Zeit Musik hörte, dann klang sie anders. Dann war es bestimmt kein Chorgesang.
Der dumpfe Gesang wehte offenbar über das Wasser hinweg auf ihn zu.
Bedrohlich hörte es sich an. Düster und unheimlich zugleich. Das war keine Partymusik. Kein Rap und auch kein Techno. Hier sang jemand einen düsteren Choral, und das nicht allein, denn dort vereinigten sich viele Stimmen.
Thomas Weber schluckte. Er war jetzt seit zwei Jahren Polizist und fühlte sich in seinem Job wohl. Aber so etwas war ihm noch nie vorgekommen.
Gesang in der Nacht. Die Sänger nicht zu sehen. Das war schon verdammt unheimlich und nicht zu erklären, obwohl er noch immer mit der Möglichkeit rechnete, dass irgendjemand seine Anlange zu laut gestellt hatte.
Vielleicht befand sich der Typ auf der anderen Mainseite, wo sich Miltenberg ausbreitete, aber so weit würde der Schall kaum reichen.
Und noch etwas kam hinzu.
Der Gesang näherte sich ihm. Er schien im schwachen Nachtwind über den Fluss zu treiben. Zu sehen war jedoch nichts.
Er hatte keine Ahnung, wie er sich diesen Vorgang erklären sollte.
Weber atmete tief ein. Den Rucksack stellte er zurück auf den Beifahrersitz und schloss die Tür. Er wollte nicht neben dem Streifenwagen stehen bleiben, sondern die paar Meter bis zum Ufer gehen.
Vielleicht konnte er dort herausfinden, woher der Gesang kam.
Über den Fluss zu fahren war um diese Zeit nicht drin. Er hätte die Brücke nehmen können. Aber das wollte er auch nicht, weil sich der Gesang in seine Richtung bewegte.
Er ging über den Parkplatz. Tagsüber standen hier die Fahrzeuge der Menschen, die sich eine Mainfahrt gönnen wollten. Um diese Zeit aber wirkte der Platz ausgestorben. Er war leer und auch nur recht spärlich beleuchtet. Die Uferstraße führte an ihm vorbei, und auf dieser fuhren auch nur wenige Wagen. Am Tag sah das anders aus, aber in der Nacht lag alles in tiefer Stille.
Bis auf den Gesang!
An der Anlegestelle blieb Thomas Weber stehen. In der Nähe war ein weißes Ausflugsboot vertäut. Er schaukelte leicht auf den Wellen und gab hin und wieder ächzende Geräusche von sich.
Warten und beobachten.
Das Rauschen des Flusses wurde vom Gesang überlagert. Am Tag hörte man das Gewässer kaum. In der Nacht und der Stille sah es jedoch anders aus.
Thomas Weber starrte über das Wasser hinweg auf die andere Flussseite. So sehr er sich auch anstrengte, es war nichts zu erkennen. Einige Lichter, die meisten davon starr. Nur wenige wurden von den Scheinwerfern fahrender Autos abgegeben. Es war ein normales Bild, das er unzählige Male gesehen hatte. Nichts wies darauf
Weitere Kostenlose Bücher